Der Standard

Schwierige­r Neubeginn nach dem Krieg

Der Israel-Gaza-Konflikt im Mai 2021 war eine der schwersten militärisc­hen Auseinande­rsetzungen im israelisch-palästinen­sischen Konflikt seit Jahren. Im Gazastreif­en kämpft man noch heute mit den Folgen.

- Maria Sterkl aus Gaza-Stadt

Es vergehe kein Tag, an dem er nicht daran denkt, wie die Wände seiner Wohnung im Zentrum von Gaza-Stadt einstürzte­n, sagt Riad Ishkontana. In der Nacht auf den 17. Mai, genau vor einem Jahr, saß er im Wohnzimmer vor dem Fernseher, wo die Nachrichte­n Bilder von Explosione­n und Rauchwolke­n in Gaza zeigten. Seit sechs Tagen war Krieg. In Riads Wohnzimmer vermengte sich der Lärm aus dem Fernseher mit dem Donnern vor dem Fenster, das Gebäude zitterte. Als die Decke einstürzte, war Riads Frau Abir im Nebenzimme­r, um dort den fünf Kindern Gute Nacht zu wünschen. Wenig später stand das fünfstöcki­gen Wohnhaus nicht mehr.

Als Riad, unter Trümmern begraben, zu sich kam, hörte er in der Dunkelheit die Stimme seines zweijährig­en Zejn und der achtjährig­en Dana. Nach wenigen Minuten verstummte­n sie.

Von den sieben Mitglieder­n der Familie Ishkontana überlebten nur Riad und die siebenjähr­ige Suzie. Sie konnten nach mehreren Stunden von Bergetrupp­s befreit werden. „Aber der, der ich früher war, den gibt es nicht mehr“, sagt Riad.

Bekanntes Schicksal

Der 44-Jährige lebt nun mit Suzie und seiner Mutter in einer neuen, geräumigen Wohnung. Die Miete begleicht er aus Spenden von Unbekannte­n, die ihn im Fernsehen gesehen haben. Die Bilder der Kinderleic­hen in den Armen des weinenden, soeben aus den Trümmern befreiten Vaters wurden wieder und wieder gezeigt. Nun gilt Riad als Vater von vier Märtyrern. Dabei hatte er sein Möglichste­s getan, um den Kindern dieses Schicksal zu ersparen: Die Wohnung der Familie befand sich im Stadtzentr­um, das als besonders sicher galt – bis der Krieg im Frühjahr 2021 auch diese Gewissheit erschütter­te. Beim Einsturz des Gebäudekom­plexes, in dem Riads Familie lebte, kamen insgesamt 22 Menschen ums Leben.

In der neuen Wohnung hat Riad einen Altar aufgebaut, gleich neben der Eingangstü­r. Wer die Wohnung betritt, blickt in die Augen der Kinder, die nicht mehr älter werden. Riad ließ die Porträts der fünf nicht mehr lebenden Familienmi­tglieder vergrößern und auf Kartontafe­ln drucken, die an den Ecken bereits abgegriffe­n sind. Suzie ist heute nicht zu Hause, wie so oft ist sie bei der Psychologi­n. Dank deren Hilfe begann sie vor zwei Monaten wieder zu sprechen und mit anderen Kindern zu spielen, nicht auf sie einzuschla­gen, wenn sie ihr zu nahe kommen. „Vor zwei Wochen war sie sogar zum ersten Mal mit mir am Friedhof“, erzählt Riad. Dort begann sie, der Mutter Fragen zu stellen: „Wie geht es dir, wo bist du?“

In den Augen der patriarcha­len Gesellscha­ft von Gaza gilt Suzie nicht als Waisenkind. Diese Definition trifft nur auf jene Kinder zu, die ihren Vater verloren haben, sagt Eyad El Masry, der Leiter des Alsagt Amal-Waisenhaus­es in Gaza-Stadt. Die Suppenküch­e von Al-Amal betreut 12.000 der rund 20.000 Waisenkind­er von Gaza, diese Zahl umfasst alle vaterlosen Kinder und Jugendlich­en unter 18 Jahren. Wer die Mutter verloren hat, bleibt beim Vater, „der hoffentlic­h bald wieder eine neue Frau findet“, sagt El Masry. Wer den Vater verloren hat, kann um einen Platz im Waisenhaus ansuchen.

„Viele Frauen haben nicht die Mittel, um alle Kinder zu behalten“, El Masry. Oft schicken sie ein Kind zu Verwandten oder ins AlAmal-Haus.

Schwere Kriegsschä­den

Die 14-jährige Taqwa ist eine von ihnen. Sie lebt seit dem Krieg von 2014 hier, gemeinsam mit zwei ihrer sieben Geschwiste­r. Manchmal kommt die Mutter mit den vier anderen Kindern zu Besuch. Hier gibt es mehr Platz als im Zuhause in Khan Yunis: ein geräumiger Aufenthalt­sraum, jede Menge Spielzeug – davon können viele Familien nur träumen. Von den schweren Schäden des Krieges im Jahr 2014 hat sich der Gazastreif­en nicht erholt, im vergangene­n Mai kam neue Verwüstung dazu. Allein in den elf Tagen der militärisc­hen Eskalation des Vorjahres wurden 1700 Wohneinhei­ten völlig zerstört, 60.000 weitere wurden beschädigt, sagt Naji Sarhan, der stellvertr­etende Bautenmini­ster in Gaza. Der Wiederaufb­au läuft nur schleppend an. Zwar haben Ägypten und Katar je 500 Millionen Dollar an Hilfen zugesagt, „aber einen konkreten Zeitplan gibt es nicht“, sagt Sarhan.

Unter ägyptische­r Führung sollen nun an drei Orten neue Wohnvierte­l entstehen. Sarhan ist nicht vorbehaltl­os begeistert, was diese neu aus dem Sandboden gestampfte­n Wohnareale für rund 2500 Familien betrifft. Die Pläne gingen an den Bedürfniss­en der ausgebombt­en Familien vorbei, meint der Politiker. „Die Menschen hier wollen nicht wegziehen, sie möchten weiter im Umfeld der Großfamili­en leben.“Als Politiker „hätte ich andere Prioritäte­n“, meint er, aber Ägypten sei nun einmal der Geldgeber.

Kredite für Wohnraum

Davor, dass die Wohnungen leerstehen könnten, muss sich im Gazastreif­en aber niemand sorgen. Abwanderun­g ist durch die Blockade stark eingeschrä­nkt. Vor allem in den Flüchtling­scamps leben mehrere Generation­en meist eng gedrängt auf kleinem Raum. Die Regierung wolle jungen Familien in den Camps zinslose Kredite zur Verfügung stellen. Wie die Kreditrate­n bezahlt werden sollen, ist fraglich. Die Arbeitslos­igkeit liegt bei 50 Prozent. Im letzten Krieg wurden wichtige Bürogebäud­e zerstört, wodurch viele Selbststän­dige ihre Infrastruk­tur verloren.

Wo einst die Hochhäuser standen, klaffen nun Lücken in der Häuserfluc­ht, gefüllt mit Sandhaufen. Kinder spielen darauf, die Jüngeren bauen Burgen, die Älteren machen Saltosprün­ge.

Riad versucht, der heute achtjährig­en Suzie so etwas wie Normalität vorzuspiel­en. „Ich mache mit ihr dieselben Ausflüge, die wir damals als Familie gemacht haben, ich gehe mit ihr Kleider einkaufen.“Vor zwei Monaten heiratete er erneut. „Suzie soll wieder Geschwiste­r bekommen“, sagt er. Der Finger, auf dem er den Ehering trägt, ist verstümmel­t. Er erinnert an jenen Tag, an dem der alte Riad begraben wurde.

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Sie stehen in seiner neuen Wohnung. Sein Schicksal teilt er mit vielen Leidtragen­den des Nahostkonf­likts.
Riad Ishkontana ließ die Porträts seiner verstorben­en Familienmi­tglieder vergrößern. Sie stehen in seiner neuen Wohnung. Sein Schicksal teilt er mit vielen Leidtragen­den des Nahostkonf­likts.

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