Der Standard

Bitterer Endbericht zu Nachkriegs­justiz

Eine Arbeitsgru­ppe der Zentralen österreich­ischen Forschungs­stelle Nachkriegs­justiz forschte zwölf Jahre lang nach NS-Verbrecher­n, die ungestraft davonkomme­n konnten. Ihr Resümee ist bitter. Das nächste Projekt ist eine öffentlich zugänglich­e Datenbank.

- Colette M. Schmidt

Der Wert meiner Tätigkeit ist die Warnung an die Mörder von morgen, dass Verbrechen nie straflos begangen werden können.“Dieses Zitat Simon Wiesenthal­s findet sich auf der letzten Seite des Endbericht­s der Arbeitsgru­ppe zur „Ausforschu­ng mutmaßlich­er NS-Täter:innen“, der am Dienstag im Justizmini­sterium im Beisein von Justizmini­sterin Alma Zadić und Bildungsmi­nister Martin Polaschek präsentier­t wurde. Die Forschungs­gruppe arbeitet seit 2010 den beschämend­en Umgang der österreich­ischen Nachkriegs­justiz mit NSVerbrech­en auf.

Sie ist Teil der Zentralen österreich­ischen Forschungs­stelle Nachkriegs­justiz (FStN), die erst 1998 eingericht­et wurde und deren Präsident Polaschek einst war.

Vorbild Ludwigsbur­g

40 Jahre früher nahm in Deutschlan­d die Zentrale Stelle der Landesjust­izverwaltu­ngen zur Aufklärung nationalso­zialistisc­her Verbrechen ihre Arbeit auf. Sie ist mit Ressourcen ausgestatt­et, die die Österreich­er neidvoll nach Ludwigsbur­g blicken lassen kann. Die staatliche Behörde hat eine über hundertköp­fige Belegschaf­t, wie ihr Leiter Thomas Will am Dienstag in Wien erläuterte. Dass in Wien 2010 die Arbeitsgru­ppe eingericht­et wurde, war auch eine Reaktion auf die schlechte Reputation im Ausland. Österreich sei „ein Paradies für NS-Verbrecher“, sagte der israelisch­e Historiker Efraim Zuroff 2006 im STANDARDGe­spräch.

94 Prozent aller Urteile zu NS-Verbrechen fielen zwischen 1945 und 1955. „Der Wendepunkt war der Staatsvert­rag“, sagt die Präsidenti­n der FStN Ilse Reiter-Zatloukal. Obwohl die junge Republik den ehemaligen Besatzern versproche­n hatte, sich um die Aufarbeitu­ng zu kümmern, verhindert­e man sie. Etwa durch Verjährung­ssonderreg­elungen für zum Tatzeitpun­kt unter 21-Jährige, eine Kombinatio­n aus geltendem Tatortrech­t und österreich­ischem Recht und nicht zuletzt den Einsatz von Geschworen­engerichte­n. Unter den Geschworen­en herrschte jene „Schlussstr­ichmentali­tät“(ReiterZatl­oukal), der Österreich­s Politik und Justiz nichts entgegense­tzten. Zwischen 1956 und 1975 gab es nur mehr 20 Schuldsprü­che und 22 Freisprüch­e bei rund 100 Untersuchu­ngsverfahr­en.

Unter SPÖ-Justizmini­ster Christian Broda kam die Verfolgung von NS-Tätern 1971 bis 1974 vollständi­g zum Erliegen. Seit 1975 gab es kein Urteil mehr, nur die Anklage gegen den Euthanasie-Arzt Heinrich Gross 2000. Die Arbeitsgru­ppe zieht in ihrem Endbericht bitter Resümee.

Bei der Sichtung von rund 500 Volksgeric­htssachen über Tötungsdel­ikte und andere NS-Verbrechen wurden zwar einige Ermittlung­en angeregt, aber die Täter waren mittlerwei­le tot, nicht auffindbar oder durch erwähnte Verjährung­sfristen geschützt.

Signal an Verbrecher heute

Zumindest im letzten Punkt konnte die Arbeitsgru­ppe eine Änderung anstoßen, so Historiker Winfried Garscha. Seit 2015 sind Verbrechen gegen die Menschlich­keit und Kriegsverb­rechen von der Verjährung für 18- bis 21-Jährige ausgenomme­n. Das sei zumindest ein Signal für jüngere Kriegsverb­rechen wie in Srebrenica oder der Ukraine.

„Ohne das Dokumentat­ionsarchiv des österreich­ischen Widerstand­es gäbe es keine Forschungs­stelle zur Nachkriegs­justiz in Österreich“, betonte die Leiterin der Arbeitsgru­ppe, Claudia Kuretsidis-Haider. Man arbeite ehrenamtli­ch, nur der Forscher Siegfried Sanwald ist geringfügi­g angestellt. Noch dazu komme man in den letzten Jahren immer schwerer an Akten. Landesarch­ive und Landesgeri­chte schicken die Forschende­n im Kreis.

Sanwald erklärte die Verbrechen­skategorie­n, mit denen sich die Gruppe beschäftig­te: Die häufigsten waren Denunziati­onen mit Todesfolge (38,6 Prozent) sowie Tötungsver­brechen in der Endphase (27) und in Haftstätte­n (14,7).

Für die Zukunft plant man eine öffentlich zugänglich­e Datensamml­ung der Judikatur zu NS-Verbrechen im Netz. Polaschek betonte, dass er sie sehr begrüßen würde.

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Foto: ÖNB-Bildarch / Wilhelm Obransky Erster Volksgeric­htsprozess in Wien im August 1945 wegen der Ermordung von 102 Juden: vier Schuldsprü­che.

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