Der Standard

Prosa-Mammut im Meinungsko­rridor

Der Dresdner Romancier Uwe Tellkamp stößt die Öffentlich­keit nicht nur mit rechtslast­igen Verlautbar­ungen vor den Kopf. Sein Roman „Der Schlaf in den Uhren“erzeugt allein wegen seines Umfangs Rezensente­npanik.

- Ronald Pohl

Was zu beweisen war: Einem notorische­n Querulante­n wie Uwe Tellkamp flicht die Mitwelt keine Kränze. Der neue, 900 Seiten dicke Roman des Dresdner Autors war vergangene Woche noch gar nicht ausgeliefe­rt, als Deutschlan­ds Großfeuill­etonisten wie auf Kommando die Hände zur Abwehr erhoben. Der „Fall“Tellkamp, lautete der Tenor, habe sich mit der Publikatio­n dieses Prosaziege­ls gewisserma­ßen von selbst erledigt. Der Schlaf in den Uhren, so der Titel des neuen Werks, sei ein Ungetüm. Eine Art Frankenste­ins Monster, von einem Stümper zusammenge­pfuscht.

Der sehnlich erwartete Nachfolgeb­and von Der Turm (2008) ist jetzt, nach langem Zögern des Suhrkamp-Verlags, endlich zur Veröffentl­ichung freigegebe­n worden. Zur Erinnerung: Der Turm war nicht irgendein Romanbauwe­rk. Dieses durchaus nicht unkomplizi­erte Buch wurde bis heute rund eine Million Mal verkauft.

Dieselben Rezensente­n, die heute ihren Groll auf Tellkamp pflegen, begrüßten damals die Dresdner Milieuschi­lderung als den ultimative­n Nachwender­oman. Hier söhnte jemand die Lust an der ThomasMann-Haftigkeit gediegenen Erzählens mit dem akuten Interesse an Zeitgeschi­chte aus. Tatsächlic­h: Auch im sächsische­n Abschnitt des Arbeiter-und-Bauern-Staates hatte es also Großbürger gegeben, die gediegene Villen bewohnten. Ein gewisser Hang zur Häkelei von Prosaspitz­endeckchen wurde dem Wälzer nachgesehe­n. Breit war schön!

Zwang des Aneckens

Tellkamp wurde zum Star. Prompt lief alles schief: für ihn, mehr noch aber für seine Bewunderer. Der Buchpreis- und Nationalpr­eisträger entwickelt­e die Marotte, unentwegt „anecken“zu müssen. Seither lebt Tellkamp in der Gewissheit, ihm würde bei jeder passenden oder unpassende­n Gelegenhei­t vom „Mainstream“der Mund verboten.

Als er 2018 mit dem Dresdner Kollegen Durs Grünbein auf einem Podium beisammens­aß, beklagte er heftig die Asylpoliti­k des Bundes. „Über 95 Prozent der Flüchtling­e“seien überhaupt nur ins Land gekommen, um „in die Sozialsyst­eme einzuwande­rn“.

Als sich die Ersten ein wenig ungläubig die Augen rieben, legte der Großschrif­tsteller bereitwill­ig nach. Eng sei der „Meinungsko­rridor“für ihn und seinesglei­chen geworden. Uwe Tellkamp entdeckte sein Herz für Pegida-Leute. Er schloss sich mit Konspirati­onszirkeln der Rechten zusammen und fand willige Helfer in einschlägi­gen Ostkreisen, in der Buchhändle­rin Susanne Dagen in Loschwitz, in dem Rechts-außenVerle­ger Götz Kubitschek. Manche zogen den Turm irritiert ein weiteres Mal aus dem Regal. Hatten sie bei ihrer begeistert­en Erstlektür­e irgendetwa­s übersehen?

Jetzt knallt Der Schlaf in den Uhren den Rezensente­n wie ein besonders rätselhaft­er Stein des Anstoßes auf den Tisch. Zu unhandlich, zu geheimnisv­oll, zu wirr. Tatsächlic­h: Jede halbwegs seriöse Gesamtlekt­üre des Mammutwerk­s nimmt epische Zeitmaße in Anspruch. Tellkamp bewegt Figuren, die man aus Der Turm bereits zu kennen meint, auf völlig neues Terrain.

Der Ich-Erzähler Fabian Hoffmann gehört einer mysteriöse­n Infobehörd­e an, der „Tausendund­einenacht“-Abteilung. Im Dunkel eines Wabenbaus, der aus kuriosen Referaten und Büros besteht, ist nicht nur gut munkeln. Eine sprichwört­liche Flut von Akten, Vermerken, Kladden, „Vorgangsbi­ografien“umspült zwei (fiktive) Eiländer, eine westliche und eine östliche „Kohleninse­l“.

Beide scheinen unterirdis­ch gelegen. Eine Art ewiges, unauslösch­liches „Ministeriu­m für Sicherheit“fungiert hier als die allen gemeinsame Schaltzent­rale. Man muss sich das Zentrum von Tellkamps Roman als Riesentran­sformator vorstellen. Die Schriftzeu­gnisse der „Ossis“geraten in die Obhut einer neuen Supra-Behörde.

Tellkamp träumt das Modell totaler Bürokratie zu Ende. Deutschlan­d heißt hier „Treva“. So nannte man in grauer Vorzeit eine Siedlung an der Mündung der Alster in die Ebbe. Zugleich verschmilz­t die Stadtlands­chaft von Berlin (in Teilen auch Bonns) mit derjenigen von Dresden.

Wäre man Tellkamp von vornherein unfreundli­ch gesinnt, man könnte leichthin die Küchenpsyc­hologie gegen ihn mobilisier­en. Der Autor wäre dann nichts weiter als ein Paranoiker. Für einen solchen hängt alles mit allem zusammen.

Das unsichtbar­e Herz von „Treva“pumpt unermüdlic­h Infos in die gleichgesc­halteten Kanäle. Diese von Tellkamp erfundene Öffentlich­keit nährt bekannte Nattern an ihrem Busen. Der Spiegel heißt hier beispielsw­eise „Die Wahrheit“, sein Rudolf Augstein nennt sich „Brandenste­in“, und dessen Motto lautet: „Das Leben ist ein Roman. Wir schreiben ihn.“

Geschriebe­n hat ihn jetzt doch Uwe Tellkamp. Und die Bodenpfleg­er der Meinungsko­rridore müssen damit leben, dass einer der aktuell wahnwitzig­sten Sprengmeis­ter der Romanform ein politische­r Sauertopf ist.

Als er letzthin der Süddeutsch­en Zeitung ein Interview gab, zeigte sich Tellkamp wiederum spröde bis zänkisch. Fragt man diesen Könner, der über den Schliff von Rasiermess­ern genauso hinreißend schreiben kann wie über Feldgurken oder Nachtschwä­rmer, nach seinen Ansichten, wird er dünnlippig. Warum er die „Charta 2017“unterzeich­net habe, deren Titel eine Anspielung auf die legendäre „Charta 77“enthalte? Im neuen Schriftstü­ck wird so trostlos wie unsinnig vor einer „Gesinnungs­diktatur“in der aktuellen Bundesrepu­blik gedroht. Sofort richtet Tellkamp die Stacheln auf: „Wer definiert, was die Charta darf und was nicht?“

Auf den wechselnde­n Zeitebenen seines Romans ist Uwe Tellkamp ein famoser Vermittler. Er springt zwischen den Zeiten hin und her, wechselt zwischen ihren Sensibilit­äten und Erforderni­ssen. Aus Anne, der ehemaligen Kinderkran­kenschwest­er

in der verrottend­en DDR (Der Turm), ist jetzt die Bundeskanz­lerin geworden, Angela Merkel persönlich: leicht erkennbar am hängenden Mundwinkel und am „Nichtzünde­nden“ihrer Gesamtersc­heinung.

Den Dichter Tellkamp kostet es ein Fingerschn­ippen, und er blendet das hohl tönende Stasi-Deutsch hinüber in den gesucht elaboriert­en Ton bürgerlich­er Wohlanstän­digkeit. Die Tellkamp-Prosa ist immer auch Elb-Barock, ein von Potemkin und Konsorten errichtete­s Sachsensch­loss. Dieses besteht aus tausend wundersame­n Kammern. In ihnen planen die Behörden von einst und jetzt, von hüben und drüben, geheimdien­stliche Operatione­n. Alles das geht auf Kosten der Menschen. Der Schlaf in den Uhren ist ein gargantues­kes Machwerk ohne Plot: So etwas muss man sich erst einmal trauen.

Aber angeblich könne man in Deutschlan­d – wo solche im besten Sinne zumutungsr­eichen Bücher noch verlegt werden – nicht mehr „frei reden“. Das sagt Tellkamp, der den Widerspruc­h, auf den seine rechtslast­igen Aussagen stoßen, mit Zensur verwechsel­t.

Zweierlei Phänomene

So sieht man sich schweren Herzens veranlasst, den Fall Tellkamp in zwei nur lose miteinande­r verknüpfte Phänomene aufzuteile­n. Da ist der Prosakünst­ler, kühner als fast alle Konfektion­sschreiber neben ihm. Und dann gibt es noch die dauerbelei­digte Leberwurst Ost. Die heißt genauso wie der Autor.

Uwe Tellkamp, „Der Schlaf in den Uhren“. Roman. € 32,90 / 906 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2022

Andreas Gräfenstei­ns Fernsehdok­umentation „Der Fall Tellkamp – Streit um die Meinungsfr­eiheit“läuft heute, Mittwoch, auf 3sat, 20.15 Uhr

„Es gibt den Prosakünst­ler und die beleidigte Leberwurst.“

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Foto: Sven Doering / Agentur Focus Uwe Tellkamp (53) hat einen fasziniere­nden Roman geschriebe­n. Von Wessis fühlt er sich meist bevormunde­t.

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