Der Standard

Ein Russland, mit dem man leben kann

- Hans.rauscher@derStandar­d.at

Man hätte es wissen können. Eine Lektüre von Unterlagen aus dem Jahr 2014, nach der Annexion der Krim durch Wladimir Putin, zeigt mit großer Deutlichke­it, dass schon damals bei den klugen Köpfen des Westens keine Illusionen herrschten: „Die Welt muss sich der Gefahr stellen, die Mr. Putin darstellt“, schrieb der Economist. „Wenn sie ihm jetzt nicht Einhalt gebietet, wird Schlimmere­s folgen.“Im Spiegel sprach der Historiker Heinrich August Winkler über den „expansiven Nationalis­mus“Putins. Der amerikanis­che Historiker Timothy Snyder sagte in der Zeit: „Russland will die EU zerstören. Die EU versucht, sich die Bedrohung vom Leibe zu halten, indem sie sich einredet, es gehe nur um die Ukraine. Aber es geht um Europa, nicht in einem vagen metaphoris­chen Sinne, sondern sehr konkret. Die Ukraine ist nur ein Versuchsfe­ld.“Wie gesagt, 2014.

Das Neue liegt darin, dass Putin tatsächlic­h einen großen Krieg in Europa vom Zaun gebrochen hat und dass er ihn nicht gewinnt. Was jetzt überrascht, sind die Schwächen einer Armee, die zwar Städte in Trümmer schießen, aber keine erfolgreic­he Blitzoffen­sive durchführe­n kann. Wie sollen wir in Europa mit einem solchen Russland weiterlebe­n? Wie können wir es? Was können wir tun, um nicht nur das Schlimmste – einen Sieg Putins und eine Ausdehnung seiner Aggression – zu verhindern, sondern Russland auch zu einem halbwegs zivilisier­ten Partner zu machen?

Das ist die geopolitis­che Frage Europas der nächsten 20 Jahre. Erstes Ziel muss sein, die russische Armee zum Stillstand zu bringen und ihr einige ihrer bescheiden­en Geländegew­inne wieder abzujagen. Das ist den Ukrainern im Norden, rund um Charkiw, der zweitgrößt­en Stadt, bereits gelungen. Der Westen muss die Ukrainer weiter unterstütz­en, aber vielleicht weniger darüber reden. Man muss jedoch auf jeden Fall weiterdenk­en. Russland unter Putin hat sich als riesiger, aggressive­r Störenfrie­d in und für Europa erwiesen. Unter Michail Gorbatscho­w und unter Boris Jelzin war es auf Kooperatio­n eingestell­t. Putin hat zunächst seine Versteher im Westen getäuscht und ist dann auf einen aggressive­n, imperialis­tischen Kurs eingeschwe­nkt.

Das System Putin ist im Grunde am Ende. Aber der belarussis­che Autor Artur Klinau sagt in der NZZ, gerade deswegen wäre es falsch, „eine totalitäre, verarmte und böswillige Sekte, die mit Atomwaffen ausgerüste­t ist, ganz sich selbst zu überlassen“. Man solle versuchen, mit Sanktionen nicht jenen Klassen zu schaden, die „dereinst das System ändern können“. Also differenzi­erte Sanktionen. Also jener Mittelschi­cht aus gebildeten Funktionse­liten, die derzeit zu Zehntausen­den das Land verlassen. Man solle den 20 Prozent, die gegen den Krieg sind, helfen, sich zu organisier­en.

Das ist sehr schwer angesichts der totalitäre­n Diktatur, die Putin inzwischen errichtet hat. Aber man muss es versuchen, so gut es geht – und nicht, wie viele in Österreich, davon ausgehen, dass sich ein Land, das seit 1000 Jahren unter Absolutism­us, Imperium und der Knute ist, eh nicht ändern kann. Beeinfluss­ung, Aufklärung ist möglich, vor allem mit moderner Info-Technologi­e. Es muss ein Russland geben, mit dem man leben kann. Mit dem heutigen ist das nur schwer möglich.

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