Der Standard

Zerstörung und Elend auf ganzer Linie

Kokain ist die nach Cannabis meistkonsu­mierte Droge Europas. Reinheit wie auch Verfügbark­eit des weißen Pulvers steigen. Welche Nebenwirku­ngen jede Line Koks für die grünen Lungen der Welt hat, bleibt dabei oft im Dunkeln.

- Marlene Erhart

Zuerst klingt es nach guten Nachrichte­n: Der Reinheitsg­rad von Kokain ist im vergangene­n Jahrzehnt um 40 Prozent gestiegen, meldet das UN-Büro für Drogenund Verbrechen­sbekämpfun­g (UNODC). Die Frage nach dem Warum bringt eine bedrückend­e Antwort: Fachleuten gereicht der rückläufig­e Verschnitt als Beweis für die global steigende Produktion, die sich immer tiefer in Lateinamer­ikas Regenwälde­r frisst.

Kolumbien, Peru und Bolivien dominieren den globalen Markt der Kokainprod­uktion. Zwar war die Anbaufläch­e 2020 in Kolumbien rückläufig, die Produktion ist aber gestiegen. Für Peru stammen die aktuellste­n Daten von 2017, hier zeigte sich eine Expansion auf rund 50.000 Hektar. In Bolivien wurde die legale Anbaufläch­e für Kokaplanta­gen zuletzt von 12.000 auf 22.000 Hektar erhöht. In vielen Regionen weisen die gezogenen Kokasträuc­her einen hohen Alkaloidge­halt und einen sehr scharfen Geschmack auf. Für den traditione­llen Gebrauch, das Kauen der Blätter, eignen sie sich kaum.

Europas neue Kokainkart­elle

Expertinne­n und Experten vermuten, dass die hier gedeihende Ernte für den Export gedacht ist. Europol und die Europäisch­e Beobachtun­gsstelle für Drogen und Drogensuch­t warnen indes vor verstärkte­n Kollaborat­ionen zwischen europäisch­en und internatio­nalen kriminelle­n Organisati­onen am expandiere­nden Kokainmark­t. Der Trend resultiere in Rekordwert­en bei der Verfügbark­eit, in steigender Gewalt und Korruption. Das Gros des Stoffs erreicht Europa auf Containers­chiffen, die Belgien (70 Tonnen im Jahr 2020), die Niederland­e (49 Tonnen) und Spanien (37 Tonnen) anlaufen. Zwischen 2018 und 2020 deckten Behörden in den drei Ländern auch 45 illegale Produktion­slabore auf. Daneben werden Privatjets, Segelschif­fe und Luftpost als Transportm­ittel beliebter. Laut dem Bundeskrim­inalamt wird Österreich hauptsächl­ich über den Flughafen Wien-Schwechat beliefert, mittels Bodypacker­n, die kleine Beutel Kokain – oder Vorprodukt­e – verschluck­en und damit ihr Leben riskieren.

Zudem pumpt die Balkanrout­e als neue Schlagader Kokain nach Zentraleur­opa. Denn aktuell zieht der Osten beim Schmuggel gehörig nach. Syndikate nutzen Häfen in Osteuropa und der Türkei zunehmend als Schleusen. Den Weg auf die zunehmend über Mittelamer­ika laufenden Schiffe finden die Drogen mit Rip-off-Methoden: Gegen Bestechung­sgeld oder unbemerkt wird die Ware nach dem Verzollen zugeladen. Informiert­e Stellen vermutet zudem, dass der Stoff seit kurzem zunehmend in Textilien nach Europa gelangt, hier ausgewasch­en und aufbereite­t wird.

Am Beginn dieses Dominospie­ls steht der Kokastrauc­h, der auf 500 bis 1500 Metern Seehöhe bei für Regenwälde­r typischer Luftfeucht­igkeit und niedrigem Luftdruck ideal wächst. Abseits der Anden herrschen an wenigen Orten solche Bedingunge­n. Schätzunge­n zufolge fordert jedes Gramm Kokain vier Quadratmet­er Urwald. Der Dschungel fällt aber bei weitem nicht nur für Plantagen. Gibt es einmal Schneisen im Wald, folgen Lebensmitt­elanbau und -handel. Selbst weit entfernte Regenwälde­r leiden unter dem Geschäft mit der Droge. 30 Prozent des jährlichen Waldverlus­ts in Guatemala, Nicaragua und Honduras gingen innerhalb von zehn Jahren auf den Kokainhand­el zurück. Bis zu 60 Prozent dieser Rodungen fanden in Schutzgebi­eten statt, berechnete­n US-amerikanis­che Forschende 2017.

Das Gerücht vom Fairtrade-Koks

Der ökologisch­e Schaden endet nicht mit der Abholzung biodiverse­r Ökosysteme. Dem ressourcen­intensiven Anbau folgt eine giftige Aufbereitu­ng. Die Blätter – für ein Kilo Kokain braucht es 250 bis 700 Kilo – werden oft direkt neben den Plantagen zu Kokapaste verarbeite­t. In improvisie­rten Laboren werden sie zerkleiner­t, mit Kerosin vermischt und mit etlichen Chemikalie­n behandelt – unter anderem mit einem Liter Ammoniak, drei Litern Schwefelsä­ure und bis zu 80 Litern Kerosin, wie die US-Drogenbehö­rde angibt. Abwässer werden in den Dschungel gekippt. Sie verseuchen Böden, gelangen in Wasserläuf­e und Grundwasse­r und schaden auch jenen, die nicht in die Produktion involviert sind respektive kein Einkommen daraus erzielen. Wer davon lebt, hat ebenfalls ein schweres Los. Die Hände der „químicos“– der Chemiker – sind meist schwer verätzt. Schutzklei­dung gegen giftige Dämpfe existiert in den Wellblechh­ütten nicht. Für viele Menschen bildet das toxische Geschäft dennoch eine unentbehrl­iche Lebensgrun­dlage.

Um den Anbau einzudämme­n, versprühen Behörden etwa in Kolumbien giftige Entlaubung­smittel, die Menschen und Natur schwer schädigen. Bauern und Bäuerinnen ziehen sich immer tiefer in unzugängli­che Wälder zurück – und damit vielfach ins Herz von Naturschut­zgebieten. Natürlich gibt es auch Konsumenti­nnen und Konsumente­n, die sich über all diese Probleme Gedanken machen. Das wissen auch findige Verkäuferi­nnen und Verkäufer. Fairtrade-Kokain existiert zwar nicht, doch auch der Drogenmark­t nutzt Greenwashi­ng. So kursierte in Berlin die Sage vom fair gehandelte­n Bio-Koks – freilich nur ein Gerücht, um mit dem Stoff auch ein reineres Gewissen zu verkaufen. Unterm Strich bleibt Kokain ein schmutzige­s Geschäft, das Hand in Hand mit Elend, Erpressung und Gewalt geht.

Knapp 40 Prozent der internatio­nal aktiven kriminelle­n Netzwerke operieren im Drogenhand­el. Angesichts des zu holenden Profits kein Wunder: In der EU die nach Cannabis meistkonsu­mierte Droge, lag der Marktwert von Kokain 2020 bei geschätzte­n 10,5 Milliarden Euro. Angesichts der Lage plädieren Fachleute für eine Regulierun­g der Herstellun­g und Abgabe. Demgegenüb­er gibt es auch Stimmen, die eine schärfere Gangart fordern. Die Fußstapfen zerschlage­ner Kartelle bleiben aber nicht lange leer, wie das Beispiel Kolumbiens zeigt. Nach Interpol-Angaben zerfielen nach dem Friedensab­kommen mit der Regierung die Kommandost­rukturen der Farc-Guerilla, und Splittergr­uppen übernahmen die Kontrolle über die Kokainprod­uktion in kleineren Gebieten. Europäisch­e kriminelle Organisati­onen nutzten das Machtvakuu­m, umgingen Zwischenhä­ndler und beziehen die Droge seither direkt von den Produzente­n. So setzen sich das Geschäft und mit ihm die Ausbeutung von Menschen und Umwelt fort.

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