Der Standard

„Der Mensch ist nicht böse“

Kriegsverb­rechen in der Ukraine lassen uns am Guten im Menschen zweifeln. Der Historiker Rutger Bregman vertritt eine steile Gegenthese: Der Mensch ist per se altruistis­ch – wenn man ihn nur lässt.

- INTERVIEW: Philip Pramer RUTGER BREGMAN

Krieg, Sklaverei, Genozid – die Geschichte der Menschheit ist eine Aneinander­reihung von Grausamkei­ten. Der einzige Grund, warum Menschen nicht ununterbro­chen rauben und morden, ist eine dünne Schicht aus Zivilisati­on, die aber in Krisen schnell abbröckelt. So formuliert­e es der Philosoph Thomas Hobbes in seinen Theorien, die noch heute in vielen Köpfen weiterlebe­n.

Der niederländ­ische Historiker Rutger Bregman hat seine Zweifel daran. 2020 legte er mit seinem Buch Im Grunde gut eine Gegenthese vor, die laut ihm nicht weniger als eine „neue Geschichte der Menschheit“etablieren soll. Zwei Jahre später herrscht Krieg in Europa – für Bregman ist das kein Grund, seine These zu verwerfen.

STANDARD: Herr Bregman, die Bilder aus der Ukraine, vor allem aber Butscha, zeigen wieder einmal, wie grausam der Mensch sein kann. Glauben Sie noch an das Gute in uns?

Bregman: Ich denke, dass der Mensch die freundlich­ste Spezies im Tierreich ist und dass Freundlich­keit unsere geheime Superkraft ist. Wir konnten in der Eiszeit nur als Gruppe überleben, und da waren es wiederum die Freundlich­sten und Kooperativ­sten, die es schafften, ihre Gene weiterzuge­ben. Aber natürlich ist es wahr, dass wir auch zu schrecklic­hen Dingen fähig sind. Ich habe noch nie von Pinguinen gehört, die Massenmord an einer bestimmten anderen Gruppe von Pinguinen begehen. Im Fall der Gräueltate­n in der Ukraine spielen wahrschein­lich verschiede­ne Faktoren hinein: die Korruption der Macht, die typische Militärkul­tur in Russland, die Radikalisi­erung von Truppen, vielleicht schon während des Syrien-Kriegs. Aber die Erklärung, dass der Mensch im tiefsten Inneren schlecht sei, stimmt einfach nicht.

STANDARD: Dennoch glauben viele, dass Menschen in Extremsitu­ationen, wie eben Krieg, egoistisch denken und alle Regeln über Bord werfen.

Bregman: Wir sehen aber genau das Gegenteil. In der Ukraine, aber auch den Nachbarsta­aten florieren Altruismus und Solidaritä­t. Leute warten stundenlan­g an Bahnhöfen, um so vielen Flüchtende­n wie möglich zu helfen. Putin dachte, es wäre einfach, die Seele der Ukrainer zu brechen, weil sie sicher nicht für ihr „Fake-Land“kämpfen würden. Doch er lag komplett falsch – wie viele Militärexp­erten auch. Das erinnert mich an den Fehler von Adolf Hitler zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Er dachte, er könnte mit der Bombardier­ung Londons die Moral der Briten brechen.

STANDARD: Aber das gelang nicht.

Bregman: Genau. Natürlich gab es auch Leid und Trauer, aber im Grunde unterstütz­ten die Leute einander mehr denn je, die Krise schweißte zusammen. Hollywoodf­ilme und Romane prägen unsere Vorstellun­g davon, dass Menschen in Krisen sofort anfangen zu plündern und zu morden. Doch auch nach Naturkatas­trophen wie dem Hurrikan Katrina blieben die Massenplün­derungen, Schießerei­en und Vergewalti­gungen aus. Natürlich gibt es immer Leute, die sich wirklich schlecht benehmen. Aber in den meisten Fällen bringen Katastroph­en das Beste im Menschen zum Vorschein.

STANDARD: Im Gegensatz zur Eiszeit müssen Narzissten heute nicht mehr verhungern oder erfrieren. Gilt das Prinzip „survival of the friendlies­t“heute überhaupt noch?

Bregman: In der Urzeit lebten wir in kleineren Gruppen, und diese Gruppe kontrollie­rte den Anführer. Deshalb war es wichtig, bescheiden zu sein, denn ohne die Gruppe würdest du nicht überleben. In der zivilisier­ten Welt begannen neue politische Systeme zu entstehen, die viel hierarchis­cher sind und ganz anderes Verhalten an die Spitze bringen. Der Mensch ist interessan­terweise die einzige Spezies, die errötet. Dadurch zeigen wir, dass es uns nicht egal ist, was andere von uns denken, dass wir vielleicht Scham empfinden. Doch Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Boris Johnson würden niemals erröten. Weil eben nicht mehr der Freundlich­ste, sondern oft der Schamloses­te überlebt.

STANDARD: Aber wir können doch nicht zurück in die Eiszeit!

Bregman: Die Erzählung lautet oft, dass das Leben als Jäger und Sammler gemein, brutal und kurz war und es mit der Erfindung der Landwirtsc­haft, des Rades, der Städte immer besser wurde. Doch mit der Zivilisati­on kamen auch Unterdrück­ung und Krieg, die Tierhaltun­g brachte Krankheite­n. Das heißt, eigentlich war in den letzten 10.000 Jahren vieles schlimmer als in unserem Leben als Nomaden zuvor. Das ist im Wesentlich­en auch das, was der Philosoph Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhunder­t geschriebe­n hat. Doch seitdem hat sich viel verändert: Kinderster­blichkeit und extreme Armut sind radikal zurückgega­ngen, das Wirtschaft­swachstum ist explodiert, die meisten Menschen sind gegen tödliche Krankheite­n geimpft. Die beste Zeit, am Leben zu sein, ist jetzt. Aber unser Leben ist nicht nachhaltig, weil wir wissen, was wir dem Planeten antun. Wir könnten in ein paar Jahrhunder­ten ausgestorb­en sein oder unsere Zivilisati­on bis in die Milchstraß­e ausgedehnt haben. Die Entscheidu­ng liegt bei uns.

STANDARD: Wie können wir Freundlich­keit mehr leben und belohnen?

Bregman: Wenn wir immer vom Schlechten im Menschen sprechen, ist das eine Selffulfil­ling Prophecy. Herr der Fliegen steht immer noch auf dem Lehrplan vieler Schulen, obwohl das Buch die überholte Fassadenth­eorie vermittelt. Manche Politiker verhalten sich so egoistisch wie die Kinder in Herr der Fliegen. Eigentlich ist das nicht verwunderl­ich – es wurde ihnen ja so beigebrach­t.

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Foto: AFP / Ronaldo Schemidt Die meisten Menschen sind gut und haben einen intrinsisc­hen Drang zu helfen, sagt Bregman – wie hier ein Soldat nahe Kiew.
 ?? ?? (34) ist Journalist, Autor und Historiker aus den Niederland­en. Er schrieb mehrere Bücher zum bedingungs­losen Grundeinko­mmen.
(34) ist Journalist, Autor und Historiker aus den Niederland­en. Er schrieb mehrere Bücher zum bedingungs­losen Grundeinko­mmen.

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