„Der Mensch ist nicht böse“
Kriegsverbrechen in der Ukraine lassen uns am Guten im Menschen zweifeln. Der Historiker Rutger Bregman vertritt eine steile Gegenthese: Der Mensch ist per se altruistisch – wenn man ihn nur lässt.
Krieg, Sklaverei, Genozid – die Geschichte der Menschheit ist eine Aneinanderreihung von Grausamkeiten. Der einzige Grund, warum Menschen nicht ununterbrochen rauben und morden, ist eine dünne Schicht aus Zivilisation, die aber in Krisen schnell abbröckelt. So formulierte es der Philosoph Thomas Hobbes in seinen Theorien, die noch heute in vielen Köpfen weiterleben.
Der niederländische Historiker Rutger Bregman hat seine Zweifel daran. 2020 legte er mit seinem Buch Im Grunde gut eine Gegenthese vor, die laut ihm nicht weniger als eine „neue Geschichte der Menschheit“etablieren soll. Zwei Jahre später herrscht Krieg in Europa – für Bregman ist das kein Grund, seine These zu verwerfen.
STANDARD: Herr Bregman, die Bilder aus der Ukraine, vor allem aber Butscha, zeigen wieder einmal, wie grausam der Mensch sein kann. Glauben Sie noch an das Gute in uns?
Bregman: Ich denke, dass der Mensch die freundlichste Spezies im Tierreich ist und dass Freundlichkeit unsere geheime Superkraft ist. Wir konnten in der Eiszeit nur als Gruppe überleben, und da waren es wiederum die Freundlichsten und Kooperativsten, die es schafften, ihre Gene weiterzugeben. Aber natürlich ist es wahr, dass wir auch zu schrecklichen Dingen fähig sind. Ich habe noch nie von Pinguinen gehört, die Massenmord an einer bestimmten anderen Gruppe von Pinguinen begehen. Im Fall der Gräueltaten in der Ukraine spielen wahrscheinlich verschiedene Faktoren hinein: die Korruption der Macht, die typische Militärkultur in Russland, die Radikalisierung von Truppen, vielleicht schon während des Syrien-Kriegs. Aber die Erklärung, dass der Mensch im tiefsten Inneren schlecht sei, stimmt einfach nicht.
STANDARD: Dennoch glauben viele, dass Menschen in Extremsituationen, wie eben Krieg, egoistisch denken und alle Regeln über Bord werfen.
Bregman: Wir sehen aber genau das Gegenteil. In der Ukraine, aber auch den Nachbarstaaten florieren Altruismus und Solidarität. Leute warten stundenlang an Bahnhöfen, um so vielen Flüchtenden wie möglich zu helfen. Putin dachte, es wäre einfach, die Seele der Ukrainer zu brechen, weil sie sicher nicht für ihr „Fake-Land“kämpfen würden. Doch er lag komplett falsch – wie viele Militärexperten auch. Das erinnert mich an den Fehler von Adolf Hitler zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Er dachte, er könnte mit der Bombardierung Londons die Moral der Briten brechen.
STANDARD: Aber das gelang nicht.
Bregman: Genau. Natürlich gab es auch Leid und Trauer, aber im Grunde unterstützten die Leute einander mehr denn je, die Krise schweißte zusammen. Hollywoodfilme und Romane prägen unsere Vorstellung davon, dass Menschen in Krisen sofort anfangen zu plündern und zu morden. Doch auch nach Naturkatastrophen wie dem Hurrikan Katrina blieben die Massenplünderungen, Schießereien und Vergewaltigungen aus. Natürlich gibt es immer Leute, die sich wirklich schlecht benehmen. Aber in den meisten Fällen bringen Katastrophen das Beste im Menschen zum Vorschein.
STANDARD: Im Gegensatz zur Eiszeit müssen Narzissten heute nicht mehr verhungern oder erfrieren. Gilt das Prinzip „survival of the friendliest“heute überhaupt noch?
Bregman: In der Urzeit lebten wir in kleineren Gruppen, und diese Gruppe kontrollierte den Anführer. Deshalb war es wichtig, bescheiden zu sein, denn ohne die Gruppe würdest du nicht überleben. In der zivilisierten Welt begannen neue politische Systeme zu entstehen, die viel hierarchischer sind und ganz anderes Verhalten an die Spitze bringen. Der Mensch ist interessanterweise die einzige Spezies, die errötet. Dadurch zeigen wir, dass es uns nicht egal ist, was andere von uns denken, dass wir vielleicht Scham empfinden. Doch Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Boris Johnson würden niemals erröten. Weil eben nicht mehr der Freundlichste, sondern oft der Schamloseste überlebt.
STANDARD: Aber wir können doch nicht zurück in die Eiszeit!
Bregman: Die Erzählung lautet oft, dass das Leben als Jäger und Sammler gemein, brutal und kurz war und es mit der Erfindung der Landwirtschaft, des Rades, der Städte immer besser wurde. Doch mit der Zivilisation kamen auch Unterdrückung und Krieg, die Tierhaltung brachte Krankheiten. Das heißt, eigentlich war in den letzten 10.000 Jahren vieles schlimmer als in unserem Leben als Nomaden zuvor. Das ist im Wesentlichen auch das, was der Philosoph Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert geschrieben hat. Doch seitdem hat sich viel verändert: Kindersterblichkeit und extreme Armut sind radikal zurückgegangen, das Wirtschaftswachstum ist explodiert, die meisten Menschen sind gegen tödliche Krankheiten geimpft. Die beste Zeit, am Leben zu sein, ist jetzt. Aber unser Leben ist nicht nachhaltig, weil wir wissen, was wir dem Planeten antun. Wir könnten in ein paar Jahrhunderten ausgestorben sein oder unsere Zivilisation bis in die Milchstraße ausgedehnt haben. Die Entscheidung liegt bei uns.
STANDARD: Wie können wir Freundlichkeit mehr leben und belohnen?
Bregman: Wenn wir immer vom Schlechten im Menschen sprechen, ist das eine Selffulfilling Prophecy. Herr der Fliegen steht immer noch auf dem Lehrplan vieler Schulen, obwohl das Buch die überholte Fassadentheorie vermittelt. Manche Politiker verhalten sich so egoistisch wie die Kinder in Herr der Fliegen. Eigentlich ist das nicht verwunderlich – es wurde ihnen ja so beigebracht.