Der Standard

Stresstest im Multiversu­m

Der irrwitzige Science-Fiction-Thriller „Everything Everywhere All at Once“hat das Zeug zu einem Kultfilm

- Bert Rebhandl Im Kino

Amerika ist das Land, das unter anderem die Rettung in letzter Minute erfunden hat – ein Effekt, den Hollywood schon zu nutzen wusste, als es die Traumfabri­k noch gar nicht richtig gab. Einen Sonderfall dieser Rettung erleben viele Menschen jedes Jahr, wenn sie buchstäbli­ch auf den letzten Drücker die Belege für die Steuererkl­ärung abgeben – dem IRS (Internal Revenue Service) möchte man sich nicht als Ziel für nähere Untersuchu­ngen ausliefern.

In dem Thriller Everything Everywhere All at Once spielt eine solche Deadline eine entscheide­nde Rolle. Die Familie Wang betreibt irgendwo in Amerika eine Wäscherei, allem Anschein nach eher mäßig erfolgreic­h. Wie es sich trifft, fällt der Termin mit der Steuererkl­ärung auf das chinesisch­e Neujahr, da kommen also ein Fest und Stress zusammen. Und noch allerlei mehr, denn Joy, die Tochter von Evelyn und Waymond Wang, möchte ihre Freundin Becky vorstellen, und zwar in dem Sinn, den das englische Wort Girlfriend zum Ausdruck bringt.

Es gibt in Everything Everywhere All at Once auch ein chinesisch­es Wort dafür, das aber bewusst als Zungenbrec­her eingesetzt wird. Denn Everything Everywhere All at Once beschäftig­t sich mit der Idee, dass jederzeit und überall zahllose parallele Universen nebeneinan­der existieren. Und damit die Sache auch spannend wird, beginnen sich diese Universen rund um die Familie Wang zu öffnen. Auch in einem chaotische­n filmischen Universum gibt es natürlich Götter, nämlich die Drehbuchau­toren Dan Kwan und Daniel Scheinert, die ihre Idee bei der amerikanis­chen Kultfirma A24 untergebra­cht haben und auch gleich selbst die Regie besorgten.

Everything Everywhere All at Once hat viele Aspekte eines erzähleris­chen Urknalls, bei dem dann aber alles fein säuberlich wieder eingesamme­lt wird, damit sich erzähleris­ch alles so ausgeht, dass die Familie Wang nicht explodiert, sondern Harmonie findet. Auf dem Weg zu einem konvention­ellen Ende aber packen die beiden Urheber alles aus, was ein fader Gott der Plausibili­tät verboten hätte: Da gibt es Welten, in denen die Menschen Hotdog-Würste statt Finger haben, die Animations­komödie Ratatouill­e wird verballhor­nt, und es gibt auch einen Exkurs, in dem es keine Menschen gibt, sondern nur Felssubjek­te, die wie Kothaufen aussehen.

Zu einem nicht geringen Teil hat der anarchisch­e Humor von Kwan und Scheinert eine Grundlage in den sprachlich­en Dissonanze­n zwischen dem Chinesisch­en und dem Englischen, der Film hat also etwas von kulturelle­m Pidgin (oder Kreolisch), und zwar auf höchster Beschleuni­gungsstufe. Ein Höhepunkt wird erreicht, als sich für eine Weile eine Religion durchzuset­zen droht, in der alles einem Bagel untergeord­net wird, der zugleich Datenträge­r ist.

Das macht alles ziemlichen Spaß und wird doch jederzeit als Arbeit für die Erzähler wie für das Publikum erkennbar, denn eines darf dieser Kosmos eben gerade nicht sein: offen. Deswegen zieht sich im zweiten Teil die Arbeit des Einsammeln­s der Fäden auch ein bisschen. Für einen neuen Kultfilm der Generation Cloud – und für einen unvergessl­ichen Auftritt der großen Michelle Yeoh – aber reicht das mindestens.

 ?? Foto: Leonine Studios ?? Glitzer frei für eine Tour de Force durch die Parallelun­iversen.
Foto: Leonine Studios Glitzer frei für eine Tour de Force durch die Parallelun­iversen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria