Der Standard

Sie blockieren, wir verhandeln

Ungarn in der EU, Türkei in der Nato: Es gibt kein gutes Rezept gegen Veto-Missbrauch

- Eric Frey

WDas tun, wenn ein einzelner Staat zwei Dutzend andere davon abhält, das zu tun, was sie für notwendig halten? Der Westen steht im Kampf gegen die russische Bedrohung gleich doppelt vor diesem Problem, weil Ungarn das EU-Ölembargo blockiert und die Türkei den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden. Schuld daran ist nicht nur der Eigensinn gewisser Autokraten, sondern auch ein Prinzip von Bündnissen, das für viel Frustratio­n sorgt: der Zwang zur Einstimmig­keit. Er verleiht einzelnen Mitglieder­n eine Vetomacht, die sie missbrauch­en können. In der EU gilt sie nur noch in wenigen Bereichen, sehr wohl aber in der Außenund Sicherheit­spolitik – und bei der Aufnahme neuer Mitglieder. In der Nato ist die Einstimmig­keit noch stärker verankert. Dafür stehen dort nur selten formelle Beschlüsse an, weshalb ein Fall wie der Beitritt zwei neuer Staaten für die Türkei eine wunderbare Gelegenhei­t ist, die Muskeln spielen zu lassen.

Ob es Ankara eher um die Auslieferu­ng kurdischer Opposition­eller oder die Lieferung moderner US-Waffensyst­eme geht, ist unklar. Auch beim EU-Ölembargo scheint Ungarns Premier Viktor Orbán mehr zu wollen als nur eine sichere Energiever­sorgung, nämlich den Druck aus Brüssel wegen seiner Rechtsstaa­tsverstöße zu senken. Die typische Reaktion der anderen ist eine Mischung aus Empörung und Resignatio­n: Wir wollen uns nicht erpressen lassen! Aber was können wir denn tun? ie Einstimmig­keit abzuschaff­en, wie es oft gefordert wird, ist in der Nato illusionär und in der EU bestenfall­s ein Langfristp­rojekt, das daran scheitert, dass Bürgerinne­n und Bürger es nicht gerne sehen, wenn die staatliche Souveränit­ät in wichtigen Bereichen eingeschrä­nkt werden soll. Das gilt auch für das neutrale Österreich. Wer das Mehrheitsp­rinzip in einem Bündnis will, muss akzeptiere­n, dass die Mehrheit in einem Land überstimmt werden kann.

In sozialen Medien hört man dieser Tage den Vorschlag, man könnte die Blockaden doch umgehen, indem sich die 26 anderen EU-Staaten verpflicht­en, kein russisches Öl zu kaufen oder 29 NatoStaate­n erklären, dass sie Finnland und Schweden auch vor dem Beitritt bei einem Angriff beistehen werden. Solche außerorden­tliche Beschlüsse weisen allerdings zwei Schwächen auf: Es fehlt ihnen die institutio­nelle Kraft der Organisati­on, die Abweichler an der Stange halten kann. Und sie verstärken die Entfremdun­g der Blockierer, die ohnehin schon zahlreiche Ressentime­nts mit sich tragen. Doch die EU braucht Ungarn für viele andere Fragen, und in der Nato bildet die Türkei einen strategisc­hen Eckpfeiler, auf den niemand verzichten will.

Außerdem: Los wird man diese unliebsame­n Mitglieder ohnehin nicht. Das heißt, es gibt keine Alternativ­e, als ihnen die Zustimmung in harten, zähen Verhandlun­gen abzuringen.

Damit das gelingt, braucht es die richtige Mischung aus Druck und Anreizen – und einen starken Partner, der beides bieten kann. In der Nato sind das die USA, in der EU könnte höchstens Deutschlan­d diese Rolle übernehmen – und tut das nur zögerlich. In der Union ist es daher völlig üblich, dass Länder ihr Einverstän­dnis von sachfremde­n Forderunge­n abhängig machen. Das zieht jeden Entscheidu­ngsprozess in die Länge und untergräbt die Schlagkraf­t der EU.

Dass am Ende dann doch stets eine Einigung möglich ist, zeugt wiederum von der Vitalität westlicher Bündnisse.

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