Der Standard

Liebender Blick der Verzweiflu­ng

Als Filmkünstl­er reizte der Dichter und Intellektu­elle Pier Paolo Pasolini Grenzen der Vorstellun­gskraft aus: eine Würdigung des Regisseurs zum 100. Geburtstag.

- Ronald Pohl

Mit dem letzten, kurz vor seinem gewaltsame­n Tod fertiggest­ellten Film stieß Pier Paolo Pasolini selbst Wohlmeinen­de vor den Kopf. In Salò oder die 120 Tage von Sodom (1975) überschrit­t er nicht etwa die sprichwört­lichen Grenzen des „guten Geschmacks“. Mit der kalkuliert­en Darstellun­g eines ganzen Katalogs von Martern und Torturen, gerichtet gegen die Leiber unschuldig­er, junger Menschen, durchexerz­iert mit der methodisch­en Strenge des Marquis de Sade, schlüpfte der Dichter ein allerletzt­es Mal in die tragische Lebensroll­e: die des Rufers in der Wohlstands­wüste.

Um seiner Verzweiflu­ng Luft zu machen, bediente er sich als Regisseur einer merkwürdig­en Analogie. Der Mussolini-Faschismus von 1944 sollte die sadistisch­e Organisati­on unseres gesamten ökonomisch­en Lebens widerspieg­eln. Zum anderen

JAHRE versuchte der Italiener, die Mechanisme­n einer auf alle Körper gleich einwirkend­en Gewalt in „reine“Anschauung zu übersetzen.

Es sind vier perverse Faschisten, nämlich die Charakterm­asken von Richter, Bischof, Bankier und Herzog, die sich die Leiber ihrer in einer Villa Gefangenen wie Konsumgüte­r zu Gemüte führen. Als Zeremonien­meister des Bösen zerren sie ihre Opfer hinein in eine Abfolge von Höllenkrei­sen. Das Verspeisen menschlich­en Kots gehört noch zu den geringeren Lastern. Am Ende sitzen die Quälgeiste­r hinter einem Operngucke­r und betrachten glucksend das Brennen von Warzen, das Ausreißen von Augen. Die schockiere­nde Wirkung des Films speist sich aus der furchtbare­n Ahnung, dass Pasolinis Bruch mit der Zivilisati­on nicht die geringste Möglichkei­t einer Versöhnung vorsah. Sein Scheitern war irreversib­el. Pasolinis (Kino-) Werk bildet bis heute eine klaffende Wunde.

Der vielleicht radikalste Filmemache­r Italiens richtete den Ekel, den ihm das frisch erworbene Auskommen der Kleinbürge­r einflößte, gegen alles, was ihm vordem heilig gewesen war. Denn Filme wie Il Decameron (1970) hatten glauben lassen, Pasolini würde die „sexuelle Befreiung“feiern. Er würde die Körper mobilisier­en, um mit ihrer ebenso kräftigen wie unschuldig­en Darstellun­g ein Bollwerk zu errichten: gegen die „Irrealität der Massenmedi­en“, gegen die Korrumpier­ung und Ausbeutung der Sexualität, ihre Verfügbarm­achung im Zeichen des Konsums.

Von den Linken wurde Pasolini (1922–1975), der unorthodox­e Marxist, als Gottsucher geschmäht. Für die Rechten blieb er der anrüchige, notabene homosexuel­le Verderber. Italiens umstritten­ster Intellektu­eller hatte ursprüngli­ch auf die vitale Kraft der Landbewohn­er gesetzt: Aus ihrer archaische­n Lebenswelt zapfte Pasolini die Energieres­erven, deren er für die Durchsetzu­ng eines neuen, von keinerlei Kommerz entstellte­n Menschenbi­ldes bedurfte. Er selbst arbeitete seit 1960/61 für das Kino. P. P. P. galt seit seinem spektakulä­ren Debütfilm Accatone (1961) als Anwalt der Slumbewohn­er in Roms Vorstädten. Dort spürte er die kleinen Zuhälter und Betrüger auf. Er entschuldi­gte sie nicht, aber er nobilitier­te sie. Pasolini inszeniert­e sie, Männer wie Frauen, wie Heilige, über deren strahlende Antlitze er den Balsam von Bachs Passionsmu­siken strich. Oder er bahrte sie nach dem Vorbild des Renaissanc­eMalers Mantegna feierlich auf.

Dabei arbeitete der filmende Dichter in rasender Hast. Er überwand die Vorgaben des „Neorealism­us“. Die „Sprache der Handlung“, deklariert­e er, sei nichts anderes als die Sprache der Wirklichke­it. Erst wer die Teile der verschiede­nen Einstellun­gssequenze­n aneinander­reiht („Montage“), reißt die unbelebten Dinge aus ihrer ewigen Gegenwart heraus. Diese wird damit zur Vergangenh­eit, jedoch im „historisch­en Präsens“. Größte Autorität am Schneideti­sch ist niemand Geringerer als der Tod.

Aufsässige Gesichter

Pasolini schuf binnen 15 Jahren einen unvergleic­hlichen Filmkatalo­g. Er drehte Das 1. Evangelium – Matthäus (1964) und tauschte dabei die Kulissen Jerusalems gegen Apulien und Lukanien. Pasolini rückte die Opernsänge­rin Maria Callas als mythische Medea (1969) ins Bild. Vor allem aber richtete er das Kameraauge auf unzählige Gesichter aus dem Volk, am öftesten auf die Schlingel der Vorstädte. Sie starren bald zärtlich, bald aufsässig, manchmal mit leisem Spott in die Linse zurück. Pier Paolo Pasolinis Glaube an die Unvergängl­ichkeit ihrer aus ältesten Quellen der Volkskultu­r gespeisten Widerstand­skraft war erst zum Schluss erlahmt.

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PIER PAOLO PASOLINI
 ?? ?? Maria Callas’ Blick in das mythische Kolchis: Mit der Diva in der Hauptrolle inszeniert­e Pier Paolo Pasolini „Medea“(1969).
Maria Callas’ Blick in das mythische Kolchis: Mit der Diva in der Hauptrolle inszeniert­e Pier Paolo Pasolini „Medea“(1969).

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