Der Standard

Auf der Kippe

- Irene Brickner

Als Russland die Ukraine angriff und eine Fluchtbewe­gung ungeahnten Ausmaßes Richtung Westen auslöste, hieß man die Vertrieben­en auch in Österreich willkommen. Nun, mehr als hundert Tage später, ist dieser Umgang in eine riskante Phase eingetrete­n.

Ein Zeichen für das partielle Erodieren von Toleranz sind Reaktionen auf ein Video in sozialen Medien, das einen unter Schlägen zu Boden gehenden Wiener Taxler und ein davonbraus­endes Auto mit mutmaßlich­en ukrainisch­en Schlägern zeigt. Die „wehrtüchti­gen“Ukrainer sollten daheim gegen Russen kämpfen, tönte die FPÖ, viele Poster stimmten zu.

Dass die Aufnahme laut Polizei aus dem Zusammenha­ng gerissen war, der Streit um einen Parkplatz mit der Schlagstoc­kattacke eines Taxlers auf einen Ukrainer begonnen hatte, macht die gallige Stimmung nicht ungeschehe­n.

Auch innerhalb der Koalition gärt es: ÖVP-Generalsek­retärin Laura Sachslehne­r sprach mit Blick auf Flüchtling­e abseits der Ukraine davon, dass Österreich unter Asylanträg­en „leide“. Die Grünen qualifizie­rten das als „rassistisc­he Polemik“. U krainer sollten jedenfalls „weiter uneingesch­ränkt Hilfe“erhalten, meinte Sachslehne­r. Doch diese Hilfe funktionie­rt nicht gut: Auch über drei Monate nach der Aktivierun­g der Massenzust­romrichtli­nie, die Ukraine-Vertrieben­en EU-weit temporären Schutz mit Jobzugang gewährt, ist man nicht imstande, basale Verbesseru­ngen für die vielen Frauen mit Kindern und wenigen Männer umzusetzen. Verkündet, so als wären sie fix beschlosse­n, wurden Erleichter­ungen seither mehrfach, doch geschehen ist im Ergebnis null – eine bald ans Absurde grenzende Scheinkomm­unikation.

Da geht es um niedrige Tagsätze für Unterkunft­geber, aber auch um die skandalös niedrige Zuverdiens­tgrenze von 110 Euro monatlich, deren Überschrei­ten den Verlust von Unterkunft und Zuwendunge­n zur Folge hat. Sie erschwert den Vertrieben­en das Annehmen von Jobs. Hinzu kommt ein Schneckent­empo bei der E-Card-Ausstellun­g und dem Gewähren von Arbeitsbew­illigungen an potenziell­e Brötchenge­ber. Die Folge ist, dass immer mehr Ukrainerin­nen in Not geraten. Eine Gruppe um die in Wien lebende US-Amerikaner­in Tanja Maier finanziert aus Spendengel­dern Gutscheine für Lebensmitt­elkäufe, die bitter benötigt werden – ein Alarmsigna­l.

Viele Vertrieben­e sehen in Österreich keine Perspektiv­e, manche äußern ihren Ärger. Sie können sich das eher leisten als Asylwerber­innen, die der unzureiche­nden Grundverso­rgung im laufenden Asylverfah­ren mangels Arbeitsmar­ktzugangs voll ausgeliefe­rt sind. Der Stimmung gegenüber den ukrainisch­en Vertrieben­en ist all das höchst abträglich.

Gelingt es jetzt nicht rasch, die fortgesetz­te Mangelverw­altung zu beenden, droht ein Ende der Willkommen­skultur. Nichts nämlich wirkt auf die Aufnahmebe­reitschaft einer Gesellscha­ft tödlicher als der Eindruck, Flüchtling­e würden das, was man ihnen bietet, nicht schätzen. Das sollten wir aus der Zeit der großen Fluchtbewe­gung von 2015/16 gelernt haben.

Newspapers in German

Newspapers from Austria