Endstation Flucht
Nach dem Bombardement des Bahnhofs von Kramatorsk wurde eine ukrainische Kleinstadt zum Hub für Evakuierungen.
Ihre Augen werden groß, wenn Swetlana Kravtsowa von Zügen spricht. Die Bahnhofsvorsteherin lächelt. „Ich habe die Arbeit mit Zügen und den Kontakt zu den Passagieren immer geliebt. Man trifft ständig neue und interessante Menschen“, erzählt die 48-Jährige. Sie sitzt auf einer Bank am Bahnhof in Pokrowsk in der Oblast Donezk, einer verschlafenen Stadt, in der 60.000 Menschen leben.
Auf den Gleisen hält ein Zug, viele Male mit derselben kräftig blauen und gelben Farbe lackiert, Schicht für Schicht. Es handelt sich um einen Evakuierungszug, die Fenster sind mit Klebeband versehen, zum Schutz vor Glassplittern bei Explosionen.
„Im Moment bringt die Arbeit natürlich mehr Kummer mit sich“, erklärt Kravtsowa. Seit dem russischen Angriff kümmert sie sich fast nur noch um Logistik und Evakuierungszüge. Seit Monaten greifen russische Truppen immer wieder die ukrainische Bahninfrastruktur an, eines der größten Eisenbahnnetze Europas. Züge sind zum wichtigsten Transportmittel avanciert, sie befördern nicht nur Zivilisten, sondern auch humanitäre Hilfsgüter, Kampfwillige. Sie verbinden die Städte.
Täglich Richtung Westen
Nach dem Raketenangriff der Russen auf den Bahnhof der Nachbarstadt Kramatorsk im April endet die Zugstrecke für Passagiere hier in Pokrowsk. Ironie der Geschichte: Die Stadt hat ihre Entstehung überhaupt erst dem Bahnhof zu verdanken, der vor 150 Jahren nach Beschluss des Eisenbahnministeriums des Russischen Zarenreichs gebaut wurde.
Heute macht der Bahnhof die Stadt zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt: Täglich fahren zwei Evakuierungszüge Richtung Westen, mehrere hundert Menschen jeden Tag. Seitdem sich die russische Armee bei ihren Angriffen auf den Donbass konzentriert, werden es mehr.
Die 65-jährige Irina zeigt auf ihrem Handy ein Propagandavideo des russischen TV-Senders Iswestija. Zu sehen ist das zerstörte Innere der russisch-orthodoxen Kirche in ihrem Heimatort Popasna in der Oblast Luhansk. Kravtsowa selbst musste vor einem Monat aufgrund des russischen Angriffs von dort fliehen, der Ort ist mittlerweile von den russischen Truppen besetzt.
Im Video erklärt eine Frau, sie habe sich wochenlang im Keller versteckt und nicht genau gesehen, was passiert ist. „Ich kenne diese Frau, sie arbeitet für die Kirche“, sagt Kravtsowa. „Sehen Sie, wie die russische Propaganda genau diesen Satz verwendet, um zu belegen, dass nicht die Russen, sondern die Ukrainer meine Heimatstadt zerstört haben?“
Fahrt ins Ungewisse
Mit Kravtsowa arbeiten sieben weitere Frauen in der kalten Bahnhofshalle und geben jenen, die fliehen wollen, Auskunft über die Abfahrtszeiten der Züge. „In dieser Situation ist es vielleicht sogar besser, dass wir ausschließlich Frauen sind“, sagt Kravtsowa. „Die Menschen haben keine Ahnung, wohin sie sollen. Sie haben Angst, sind nervös und machen sich große Sorgen. Sie wissen nicht, wohin es gehen wird. Ich glaube, dass es für uns Frauen leichter ist, sie zu beruhigen.“
Auch heute füllt sich der Bahnsteig mit Soldaten, Polizisten, freiwilligen Helfern. In Wellen strömen Pensionisten auf Krücken, Mütter mit Kindern, Männer mit Katzen, Hunden und Taschen aus grünen Bussen, die Gesichter starr, voller Schrecken, müde. Seit Monaten überlebten sie in Lyssytchansk, Sjewjerodonezk, in Dörfern. Viele wissen nicht, was in den vergangenen Wochen anderswo in der Ukraine passiert ist.
Späte Entscheidung
Im Zug sitzen die Geflüchteten Seite an Seite. Irina hat in Pryvillia als Aufsichtsperson in einer Schule gearbeitet. „Als die Bombardements anfingen, habe ich mein Zeitgefühl verloren“, sagt sie und versucht, ihre angeschwärzten Handflächen zu putzen. „Sind das die Hände einer Dame?“, fragt sie. „Das ist von den Bränden. Die Hälfte der Wohnung meiner Tochter ist abgebrannt. Ich weiß nicht wie, aber wie durch ein Wunder haben wir überlebt.“
Viele erzählen von der Angst, ein Flüchtling zu sein; dass sie stolz auf ihre Heimat sind, ihre Häuser, ihren Besitz; und dass sie deshalb den Moment verpassten, sich in Sicherheit zu bringen. „Wir dachten, der Krieg wird so wie 2014“, sagt Irina.
Während Irina und die anderen Geflüchteten Richtung Westen fahren, telefoniert Kravtsowa, koordiniert weitere Evakuierungen. Sie ist froh, in Pokrowsk ihrem Job als Bahnhofsvorsteherin weiter nachgehen zu können. Seit 1998 arbeitet sie schon für die Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja, die vor Kriegsbeginn 250.000 Menschen Arbeit gab.
Der Neuanfang in Pokrowsk fällt ihr dennoch schwer. „Ich kenne nur den Weg vom Bahnhof zum Supermarkt und in meine Wohnung. Popasna wird aber immer mein Lieblingsbahnhof bleiben.“
Moskau/Kiew/Brüssel – Mit einer mehr als eigenwilligen Geschichtsinterpretation hat Wladimir Putin indirekt den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gerechtfertigt: Zar Peter der Große (1672–1725) habe das Gebiet um die heutige Millionenmetropole Sankt Petersburg im Großen Nordischen Krieg von Schweden nicht erobert, sondern „zurückgewonnen“. Tatsächlich wurde die Stadt 1703 auf Sumpfgelände nahe dem Meer gegründet, um den Anspruch Russlands auf Zugang zur Ostsee durchzusetzen. Das Baltikum war historisch nie slawisch, weshalb sein Vergleich mit der „Rückholung“der Ukraine gleich mehrfach fragwürdig scheint.
Nicht nach hinten, sondern in die Zukunft blickt derweil der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj: In einer Videobotschaft für einen Demokratiegipfel der Stiftung Alliance of Democracies in Kopenhagen forderte er am Freitag von der EU mehr Tempo beim Beitritt seines Landes. Wenn laut Umfragen 71 Prozent der Europäerinnen und Europäer die Ukraine als Teil der europäischen Familie erachteten, dann frage er sich, warum es immer noch skeptische Politiker gebe, die in dieser Hinsicht zögern.
Kiew im Wartezimmer
Die 27 Staats- und Regierungschefs werden sich Ende Juni bei ihrem Gipfeltreffen zum Stand des Beitrittsprozesses des Landes äußern. Österreich gehört mit Hinweis auf andere in Warteposition befindliche Balkanstaaten zu den Bremsern; Frankreich schlägt eine „Konföderation“jener Staaten vor, die – wie die Ukraine – sich an die EU annähern, ihr aber (noch) nicht beitreten könne oder wollen.
In eine möglicherweise entscheidende Phase traten am Freitag die Kämpfe in der Ostukraine rund um den Verkehrsknotenpunkt Bachmut: Die russischen Truppen versuchten, diesen einzunehmen, um den Nachschub für das ebenfalls heftig umkämpfte Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk zu unterbinden. Die ukrainischen Verteidiger beklagten dort zuletzt einen „katastrophalen“Mangel an ArtillerieGeschützen. (gian)