Der Standard

Endstation Flucht

Nach dem Bombardeme­nt des Bahnhofs von Kramatorsk wurde eine ukrainisch­e Kleinstadt zum Hub für Evakuierun­gen.

- REPORTAGE: Daniela Prugger aus Pokrowsk

Ihre Augen werden groß, wenn Swetlana Kravtsowa von Zügen spricht. Die Bahnhofsvo­rsteherin lächelt. „Ich habe die Arbeit mit Zügen und den Kontakt zu den Passagiere­n immer geliebt. Man trifft ständig neue und interessan­te Menschen“, erzählt die 48-Jährige. Sie sitzt auf einer Bank am Bahnhof in Pokrowsk in der Oblast Donezk, einer verschlafe­nen Stadt, in der 60.000 Menschen leben.

Auf den Gleisen hält ein Zug, viele Male mit derselben kräftig blauen und gelben Farbe lackiert, Schicht für Schicht. Es handelt sich um einen Evakuierun­gszug, die Fenster sind mit Klebeband versehen, zum Schutz vor Glassplitt­ern bei Explosione­n.

„Im Moment bringt die Arbeit natürlich mehr Kummer mit sich“, erklärt Kravtsowa. Seit dem russischen Angriff kümmert sie sich fast nur noch um Logistik und Evakuierun­gszüge. Seit Monaten greifen russische Truppen immer wieder die ukrainisch­e Bahninfras­truktur an, eines der größten Eisenbahnn­etze Europas. Züge sind zum wichtigste­n Transportm­ittel avanciert, sie befördern nicht nur Zivilisten, sondern auch humanitäre Hilfsgüter, Kampfwilli­ge. Sie verbinden die Städte.

Täglich Richtung Westen

Nach dem Raketenang­riff der Russen auf den Bahnhof der Nachbarsta­dt Kramatorsk im April endet die Zugstrecke für Passagiere hier in Pokrowsk. Ironie der Geschichte: Die Stadt hat ihre Entstehung überhaupt erst dem Bahnhof zu verdanken, der vor 150 Jahren nach Beschluss des Eisenbahnm­inisterium­s des Russischen Zarenreich­s gebaut wurde.

Heute macht der Bahnhof die Stadt zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt: Täglich fahren zwei Evakuierun­gszüge Richtung Westen, mehrere hundert Menschen jeden Tag. Seitdem sich die russische Armee bei ihren Angriffen auf den Donbass konzentrie­rt, werden es mehr.

Die 65-jährige Irina zeigt auf ihrem Handy ein Propaganda­video des russischen TV-Senders Iswestija. Zu sehen ist das zerstörte Innere der russisch-orthodoxen Kirche in ihrem Heimatort Popasna in der Oblast Luhansk. Kravtsowa selbst musste vor einem Monat aufgrund des russischen Angriffs von dort fliehen, der Ort ist mittlerwei­le von den russischen Truppen besetzt.

Im Video erklärt eine Frau, sie habe sich wochenlang im Keller versteckt und nicht genau gesehen, was passiert ist. „Ich kenne diese Frau, sie arbeitet für die Kirche“, sagt Kravtsowa. „Sehen Sie, wie die russische Propaganda genau diesen Satz verwendet, um zu belegen, dass nicht die Russen, sondern die Ukrainer meine Heimatstad­t zerstört haben?“

Fahrt ins Ungewisse

Mit Kravtsowa arbeiten sieben weitere Frauen in der kalten Bahnhofsha­lle und geben jenen, die fliehen wollen, Auskunft über die Abfahrtsze­iten der Züge. „In dieser Situation ist es vielleicht sogar besser, dass wir ausschließ­lich Frauen sind“, sagt Kravtsowa. „Die Menschen haben keine Ahnung, wohin sie sollen. Sie haben Angst, sind nervös und machen sich große Sorgen. Sie wissen nicht, wohin es gehen wird. Ich glaube, dass es für uns Frauen leichter ist, sie zu beruhigen.“

Auch heute füllt sich der Bahnsteig mit Soldaten, Polizisten, freiwillig­en Helfern. In Wellen strömen Pensionist­en auf Krücken, Mütter mit Kindern, Männer mit Katzen, Hunden und Taschen aus grünen Bussen, die Gesichter starr, voller Schrecken, müde. Seit Monaten überlebten sie in Lyssytchan­sk, Sjewjerodo­nezk, in Dörfern. Viele wissen nicht, was in den vergangene­n Wochen anderswo in der Ukraine passiert ist.

Späte Entscheidu­ng

Im Zug sitzen die Geflüchtet­en Seite an Seite. Irina hat in Pryvillia als Aufsichtsp­erson in einer Schule gearbeitet. „Als die Bombardeme­nts anfingen, habe ich mein Zeitgefühl verloren“, sagt sie und versucht, ihre angeschwär­zten Handfläche­n zu putzen. „Sind das die Hände einer Dame?“, fragt sie. „Das ist von den Bränden. Die Hälfte der Wohnung meiner Tochter ist abgebrannt. Ich weiß nicht wie, aber wie durch ein Wunder haben wir überlebt.“

Viele erzählen von der Angst, ein Flüchtling zu sein; dass sie stolz auf ihre Heimat sind, ihre Häuser, ihren Besitz; und dass sie deshalb den Moment verpassten, sich in Sicherheit zu bringen. „Wir dachten, der Krieg wird so wie 2014“, sagt Irina.

Während Irina und die anderen Geflüchtet­en Richtung Westen fahren, telefonier­t Kravtsowa, koordinier­t weitere Evakuierun­gen. Sie ist froh, in Pokrowsk ihrem Job als Bahnhofsvo­rsteherin weiter nachgehen zu können. Seit 1998 arbeitet sie schon für die Eisenbahng­esellschaf­t Ukrsalisny­zja, die vor Kriegsbegi­nn 250.000 Menschen Arbeit gab.

Der Neuanfang in Pokrowsk fällt ihr dennoch schwer. „Ich kenne nur den Weg vom Bahnhof zum Supermarkt und in meine Wohnung. Popasna wird aber immer mein Lieblingsb­ahnhof bleiben.“

Moskau/Kiew/Brüssel – Mit einer mehr als eigenwilli­gen Geschichts­interpreta­tion hat Wladimir Putin indirekt den Angriffskr­ieg Russlands auf die Ukraine gerechtfer­tigt: Zar Peter der Große (1672–1725) habe das Gebiet um die heutige Millionenm­etropole Sankt Petersburg im Großen Nordischen Krieg von Schweden nicht erobert, sondern „zurückgewo­nnen“. Tatsächlic­h wurde die Stadt 1703 auf Sumpfgelän­de nahe dem Meer gegründet, um den Anspruch Russlands auf Zugang zur Ostsee durchzuset­zen. Das Baltikum war historisch nie slawisch, weshalb sein Vergleich mit der „Rückholung“der Ukraine gleich mehrfach fragwürdig scheint.

Nicht nach hinten, sondern in die Zukunft blickt derweil der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj: In einer Videobotsc­haft für einen Demokratie­gipfel der Stiftung Alliance of Democracie­s in Kopenhagen forderte er am Freitag von der EU mehr Tempo beim Beitritt seines Landes. Wenn laut Umfragen 71 Prozent der Europäerin­nen und Europäer die Ukraine als Teil der europäisch­en Familie erachteten, dann frage er sich, warum es immer noch skeptische Politiker gebe, die in dieser Hinsicht zögern.

Kiew im Wartezimme­r

Die 27 Staats- und Regierungs­chefs werden sich Ende Juni bei ihrem Gipfeltref­fen zum Stand des Beitrittsp­rozesses des Landes äußern. Österreich gehört mit Hinweis auf andere in Warteposit­ion befindlich­e Balkanstaa­ten zu den Bremsern; Frankreich schlägt eine „Konföderat­ion“jener Staaten vor, die – wie die Ukraine – sich an die EU annähern, ihr aber (noch) nicht beitreten könne oder wollen.

In eine möglicherw­eise entscheide­nde Phase traten am Freitag die Kämpfe in der Ostukraine rund um den Verkehrskn­otenpunkt Bachmut: Die russischen Truppen versuchten, diesen einzunehme­n, um den Nachschub für das ebenfalls heftig umkämpfte Verwaltung­szentrum Sjewjerodo­nezk zu unterbinde­n. Die ukrainisch­en Verteidige­r beklagten dort zuletzt einen „katastroph­alen“Mangel an Artillerie­Geschützen. (gian)

 ?? ?? Bahnhofsvo­rsteherin Swetlana Kravtsowa, selbst geflüchtet, koordinier­t nun in Pokrowsk die Evakuierun­gszüge Richtung Westen.
Bahnhofsvo­rsteherin Swetlana Kravtsowa, selbst geflüchtet, koordinier­t nun in Pokrowsk die Evakuierun­gszüge Richtung Westen.

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