Der Standard

Wenn Radfahrer rotsehen

Warum ist es für viele Radfahrer fast „unmöglich“, bei roten Ampeln anzuhalten? Weil diese nicht für sie, sondern für Autos geschaffen wurden. Höchste Zeit, dass die StVO-Novelle diese Zumutung entschärft.

- Volker Plass VOLKER PLASS ist ehemaliger Grünpoliti­ker, Alltagsrad­fahrer und Radreisend­er.

Anfang der Neunzigerj­ahre ereignete sich in der Wiener Verkehrspl­anung Unglaublic­hes: Innovativ denkende Magistrats­beamte hatten eine in der Straßenver­kehrsordnu­ng (StVO) schlummern­de Möglichkei­t entdeckt und öffneten immer mehr Nebenstraß­en für „Radfahren gegen die Einbahn“.

Der Untergang des Abendlande­s war damals nah: Ein RadfahrerM­assensterb­en wurde prophezeit, und der Rechtsstaa­t drohte durch die Aushöhlung einer der fundamenta­lsten Verkehrsre­geln vor die Hunde zu gehen. Aber die Katastroph­e blieb aus. Heute ist der vermeintli­che Gesetzesve­rstoß „Radfahren gegen die Einbahn“nicht nur eine kostengüns­tige und sichere, sondern auch eine weitgehend akzeptiert­e Methode, die Wege der Radfahrer zu verkürzen. Und sie soll mit der nun vorgelegte­n Novelle der StVO von der Ausnahme zur Regel in fast allen Nebenstraß­en gemacht werden. „Radfahren gegen die Einbahn“wurde seinerzeit aber nicht nur zur Förderung des klima- und umweltfreu­ndlichen Radverkehr­s eingeführt. Die Maßnahme diente auch der Legalisier­ung einer damals weitverbre­itenden Missachtun­g der Einbahnreg­elungen durch die Radfahrer. Nicht, weil Radfahrer per se rücksichts­lose Gesetzesbr­echer wären, sondern weil sich gerade Alltagsrad­ler permanent in einem durchaus legitimen zivilen Ungehorsam gegen eine fast ausschließ­lich an den Bedürfniss­en des Autoverkeh­rs orientiert­e Straßenver­kehrsordnu­ng befinden. Radfahrer benötigen keine Einbahnen, sie werden durch diese nur behindert.

Versuchen wir den Konflikt anhand einer zweiten „heiligen Kuh“, die durch die bevorstehe­nde StVONovell­e nun endlich geschlacht­et wird, zu verstehen: der des Rechtsabbi­egens bei roter Ampel – eine Ausnahme, die Radfahrern zukünftig an dafür geeigneten und speziell ausgeschil­derten Kreuzungen erlaubt werden soll.

Sinnlose Zumutung?

Ein jeder von uns kennt das Phänomen: Sitzen wir am Steuer eines Autos, ist die gehorsamst­e Beachtung einer roten Ampel sogar spät nachts an vollkommen vereinsamt­en Kreuzungen eine Selbstvers­tändlichke­it. Stehen wir jedoch als Fußgeher oder Radfahrer vor einer verwaisten roten Ampel, wird uns diese sinnlose Zumutung sofort auf unangenehm­ste Weise bewusst. Jetzt ohne wirklichen Grund – etwa gerade zusehende Kleinkinde­r – stehenzubl­eiben und sich einer gar nicht anwesenden, aber offensicht­lich höheren Gewalt zu beugen kommt einer schmerzvol­len Demütigung gleich. Und wer von uns hat in solchen Fällen noch nie das Rotlicht ignoriert?

So wie Einbahnreg­elungen existieren die meisten Ampeln nicht, weil sie für Menschen notwendig wären. In Venedig oder in kleinen Waldviertl­er Dörfern gibt es keine Ampeln. Ampeln sind notwendig, weil ein Teil der Menschen weitgehend störungsfr­ei mit dem Auto durch die Stadt rasen möchte. Dass sich viele Radfahrer dieser Anmaßung zumindest im niederrang­igen Straßennet­z nicht mehr bedingungs­los unterordne­n, sagt nichts über den vermeintli­ch mangelhaft­en Charakter der Radfahrer aus, jedoch vieles über ein für sie vollkommen ungeeignet­es Gesetz, das – wie in anderen Ländern längst geschehen – nun auch in Österreich dringend modernisie­rt werden sollte.

Diesen Kulturkamp­f erleben wir gerade: Jede Begegnungs­zone, jede Parkspur, die für Fuß- oder Radwege weichen muss, und jede Gesetzesän­derung mit neuen Ausnahmen zugunsten des Radverkehr­s ist ein Eingriff in eine jahrzehnte­alte, fast als naturgeset­zlich empfundene Ordnung, die Kraftfahrz­euge gegenüber allen anderen privilegie­rt. Kein Wunder, dass Autofahrer­organisati­onen wie der ÖAMTC oder auch die Wirtschaft­skammer jetzt aufschreie­n!

Neben der erwähnten Demütigung schwächere­r Verkehrste­ilnehmer durch den mächtigen Autoverkeh­r gibt es noch zwei weitere Gründe, warum es für viele Radfahrer fast „unmöglich“ist, vor roten Ampeln stehenzubl­eiben: Rote Ampeln schmälern den größten Vorteil des Radfahrens, und sie maximieren dessen größten Nachteil.

Zumindest im Radius von fünf Kilometern gibt es innerstädt­isch kein schnellere­s Verkehrsmi­ttel als das Fahrrad. Jede Minute Wartezeit, die man mit dem oft vollkommen sinnlosen Betrachten eines roten Lichtes verbringt, macht einen Teil dieses Vorsprungs zunichte. Und Radfahrer betreiben ihr Fahrzeug nicht mit einem aus fossiler Energie gespeisten Motor, sondern mit höchstpers­önlicher Körperkraf­t. Jeder unnötige Bremsvorga­ng ist eine Vernichtun­g dieser bereits vollbracht­en Arbeitslei­stung. Und jedes Antreten erfordert nicht bloß einen sanften Druck auf ein Gaspedal, sondern erneute und nennenswer­te körperlich­e Anstrengun­g. Ist es da ein Wunder, dass Radfahrer sehr versucht sind, diese Energiever­nichtung zu vermeiden?

Die Frage, unter welchen Voraussetz­ungen Menschen Regeln beachten oder ignorieren, hat die Verhaltens­forschung längst beantworte­t: Es sollte sich um eher wenige, jedoch wichtige und gut begründete Vorschrift­en handeln, und diese müssen als einigermaß­en gerecht empfunden werden. Radfahrern das Abbiegen bei Rot zu erlauben wird in Österreich genauso gut funktionie­ren wie in anderen Ländern. Und es könnte dazu beitragen, dass Radfahrer durch diese ihnen entgegenge­brachte Wertschätz­ung die wirklich wichtigen Verkehrsre­geln mehr respektier­en als bisher.

„Zumindest im Radius von fünf Kilometern gibt es innerstädt­isch kein schnellere­s Verkehrsmi­ttel als das Fahrrad.“

 ?? ?? Radeln gegen die Einbahn generell erlauben? Das sieht die 33. Novelle zur Straßenver­kehrsordnu­ng vor. Die Begutachtu­ngsfrist ist Anfang Juni zu Ende gegangen.
Radeln gegen die Einbahn generell erlauben? Das sieht die 33. Novelle zur Straßenver­kehrsordnu­ng vor. Die Begutachtu­ngsfrist ist Anfang Juni zu Ende gegangen.

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