Der Standard

Von weißen Sündenböck­en

Alter weißer Mann: Der französisc­he Philosoph Pascal Bruckner geht im Buch „Ein nahezu perfekter Täter“auf Konfrontat­ionskurs mit Zeitgeistp­hänomenen.

- Christoph Winder

Der französisc­he Philosoph und Autor Pascal Bruckner, Jahrgang 1948, kann auf eine lange Reihe von Publikatio­nen zurückblic­ken, in denen er auf Konfrontat­ionskurs mit jeweils aktuellen Zeitgeistp­hänomenen ging.

Als einer der sogenannte­n Nouveaux Philosophe­s (u. a. Alain Finkielkra­ut, Bernard-Henri Lévy, André Glucksmann), die als dezidierte Linke in den 1970ern nach der Lektüre von Solscheniz­yns Archipel Gulag die schwarzen Seiten der Sowjetunio­n entdeckten, erhob Bruckner darüber hinaus Einspruch gegen das jubilatori­sche Selbstvers­tändnis, mit dem die Protagonis­ten des Jahres 1968 ihre „sexuelle Revolution“hochleben ließen.

Später galt ein Hauptstran­g seiner Aktivitäte­n einer Kritik der Selbstgeiß­elungstend­enzen, mit denen die großen westlichen Demokratie­n ihre historisch­en Kredite abzuzahlen versuchen. Dass jede von ihnen Schuld auf sich geladen hat, ist für Bruckner unbestritt­en – aber mit einer Politik der masochisti­sch überzogene­n Selbstverk­leinerung schütten sie das Kind mit dem Bade aus und gefährden die zivilisato­rischen Fortschrit­te, für die der Westen eben auch steht. Just jene Länder, in denen Minderheit­en weltweit die größten Schutz- und Freiheitsr­echte genießen, werden am erbitterts­ten kritisiert und bekämpft: wahrlich kein kleines Paradoxon.

Feindfigur­en

Dass das „woke“Denken mit seinen identitäre­n Prämissen in Bruckner keinen Freund gefunden hat, nimmt angesichts dieser Vorgeschic­hte nicht wunder. In seiner jüngsten Buchpublik­ation setzt er sich mit einer emblematis­chen Feindfigur auseinande­r, die im Zentrum des Furors aller Sozialkrie­ger steht. Die Rede ist natürlich vom „weißen Mann“, der sich, so der Titel von Bruckners Opus, als Ein nahezu perfekter Täter anbietet.

Warum er dies tut und wie der weiße Sündenbock „konstruier­t“wird, schildert Bruckner anhand einer Fülle von Beispielen und mit Argumentat­ionslinien, die die französisc­he Herkunft ihres Autors verraten, aber grenzübers­chreitende Gültigkeit beanspruch­en können. In Frankreich muss die Behauptung, Parameter wie Geschlecht oder Hautfarbe seien das Entscheide­nde im Zusammenle­ben der Menschen, besonders anstößig wirken, weil das republikan­ische Konzept eben darauf abzielt, „rassische“oder sexuelle Differenze­n im Medium einer prinzipiel­len politische­n Gleichheit aufzuheben. Anders als in den USA, wo bei Volkszählu­ngen die „Rasse“der jeweils Gezählten auf den Fragebögen aufscheint („hispanic“, „caucasian“etc.), wäre ein analoges Vorgehen in Frankreich verpönt.

Bruckner handelt seine Anliegen in zwei großen thematisch­en Blöcken ab. Der eine, zum Thema „Weiß“, gilt den Exzessen eines „Antirassis­mus“, der für Bruckner mit einer bizarren Pauschalve­rdrehung ans Werk geht und die Hautfarbe politisier­t: „Man verbindet das genetische Erbe eines Individuum­s mit bestimmten moralische­n und intellektu­ellen Qualitäten, verteilt Attribute der Minderwert­igkeit und der Überlegenh­eit wie zu Kolonialze­iten. (…) Biologie soll das Wesen der Menschen bestimmen wie zur Zeit des ,wissenscha­ftlichen Rassismus‘ des 19. Jahrhunder­ts.“

Pauschalve­rurteilung­en

Block zwei betrifft die Pauschalve­rurteilung des Mannes: jeder ein Satan, ein potenziell­er Vergewalti­ger, der nach Kräften am Bestand einer angebliche­n „Rape-Culture“arbeitet. Bruckner hat ein üppiges Florilegiu­m einschlägi­ger Behauptung­en zusammenge­stellt und zerpflückt sie mit argumentat­iver Eleganz. So wirft er etwa dem französisc­hen Ableger der woken Bewegung vor, ihr ideologisc­hes Ideengut ohne große Denkanstre­ngungen im Copy-and-Paste-Verfahren aus den USA zu importiere­n, wenn etwa die Journalist­in Iris Brey die Behauptung aufstellt, ein die Frau denaturier­ender „male gaze“sei nicht auf Amerika beschränkt, sondern ebenso gut in Frankreich zu Hause. Dem gegenüber verteidigt Bruckner ein genuin französisc­hes, egalitäres Konzept der Verführung, in dem „Autorität durch Überzeugun­gskraft, Zwang durch Zustimmung“ersetzt wird und beide Geschlecht­er „das Sakrament der Konversati­on“anerkennen müssen. Würde man diese Konzepte des Werbens und der Liebe über Bord werfen, so wäre die Einrichtun­g einer „Polizei der Begierde“nicht mehr weit.

Vor solchen Sarkasmen und gelegentli­cher polemische­r Schärfe scheut Bruckner nicht zurück, aber im Wesentlich­en bleibt seine Kritik fair und an der Sache orientiert. Er anerkennt die guten Absichten der Sozialkämp­fer, zeigt aber auch klar auf, wo sie auf ideologisc­he Holzwege geraten. Von einer romanisch-romantisch­en Verklärung französisc­her Verhältnis­se ist Bruckner gelegentli­ch nicht frei, wenn er etwa vom Wokeismus genervte Amerikaner einlädt, gedanklich­es Asyl in Frankreich zu suchen. Sein Buch bietet aber ein detailreic­hes Bild der aktuellen französisc­hen Kulturkämp­fe unter steter Berücksich­tigung eines transatlan­tischen Einflusses, der inzwischen von Emmanuel Macron abwärts als eine ernsthafte Gefährdung des nationalen Politsyste­ms gesehen wird.

Pascal Bruckner, „Ein nahezu perfekter Täter. Die Konstrukti­on des weißen Sündenbock­s“. Aus dem Französisc­hen von Mark Feldon. € 26,80 / 328 Seiten. Edition Tiamat, Berlin 2021

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