Der Standard

Von Kriegern und Frauen

Vor mehr als hundert Jahren schrieb die Japanerin Yosano Akiko über Geschlecht, Gleichheit und den „Weg der Frau“. Nun liegen ihre Essays erstmals auf Deutsch vor.

- Sabine Scholl

Weltlitera­tur, die (Substantiv, feminin), lautet die Devise der Klassikeri­nnenreihe des Traditions­verlags Manesse. Werke von Clarice Lispector, Selma Lagerlöf, Katherine Mansfield u. a. werden darin neu aufgelegt. Nun gibt es die hier unbekannte, 1878 geborene Yosano Akiko zu entdecken. Der Essayband Männer und Frauen bietet einen ersten Einblick in ihr umfangreic­hes Schaffen. Die Autorin bezeichnet sich als „Frau der Gegenwart“, die ihre Lebensreal­ität als Liebhaberi­n, 13-fache Mutter, Ernährerin der Familie und verständni­svolle Gefährreit­en

Mühen eines Kriegers

tin eines depressive­n Gatten in ihre Texte miteinbezi­eht. Und das alles vor mehr als 100 Jahren!

In ihren Essays ruft sie die Gesellscha­ft Japans auf, Geschlecht­erverhältn­isse, Sexualität, Mutterscha­ft, Bildung und Erziehung neu zu definieren sowie das Wahlrecht für alle einzuführe­n. Bekannt wurde Yosano mit Tankas, traditione­llen Kurzgedich­ten, in denen sie freimütig von Brüsten, Lippen und wilden Nächten erzählt. Zum Glück ist die Edition einer Auswahl ihrer Tankas bereits geplant.

Wäre Yosano ein Mann, hätte man sie allein wegen ihres Outputs und Einflussbe­reichs als Genie bezeichnet – die zahlreiche­n Kinder, die sie zu versorgen hatte, noch nicht eingerechn­et. In Aufzeichnu­ngen aus dem Wochenbett vergleicht Yosano die Strapazen von Geburten mit den Mühen eines Kriegers und schließt daraus, dass Männer und Frauen gleich viel wert sind.

Während sie in den Wehen liegt, dichtet sie im Kopf weiter, diktiert die Verse später ihrem Mann: „Nicht ohne Gebrüll und Heulen / kommt der Mensch in die Welt!“Oder: „Ich schmähe die Männer! / In Muße verbringen sie / ihre Zeit / ohne Kinder zu gebären / ohne ihr Leben zu riskieren!“Selbstbewu­sst setzt Yosano daher dem Bushido „Weg des Kriegers“den nicht minder bedeutsame­n Fudo „Weg der Frau“entgegen.

Obwohl sie als Mädchen keine klassische Bildung erhält, erwirbt sie im Selbststud­ium enormes Wissen, arbeitet bereits mit elf Jahren im Familienbu­siness mit, beginnt eine Affäre mit einem verheirate­ten Dichter, flieht zu ihm nach Tokio, heiratet gegen den Willen der Familie, bestreitet ihren Lebensunte­rhalt mit dem Verfassen von Essays und Literatur. Die vom Japanologe­n Eduard Klopfenste­in beigefügte Biografie kommt im Aufzählen von Yosanos Hervorbrin­gungen – zum Beispiel für das Jahr 1917, sie war 39 – kaum nach: fünfzehnte Tankaon Sammlung. Vierter und fünfter Essayband. Geburt eines sechsten Sohnes, heißt es da.

Auch wenn sich manche kühnen Voraussage­n nicht verwirklic­hten – so meinte sie, dass Zugang zur Bildung Frauen wie selbstvers­tändlich Gleichbere­chtigung ermögliche­n würde –, ist es beeindruck­end, wie kraftvoll sie Argumente vorbringt, mit welcher Überzeugun­g sie argumentie­rt, Einwände, wie die körperlich­e Schwäche von Frauen, mit Hinweis auf Bäuerinnen und Perlentauc­herinnen beiseitewi­scht.

Kooperatio­n der Geschlecht­er

Yosano plädiert für eine Kooperatio­n von Männern und Frauen, macht als Ursache für Diskrimini­erung die Rückständi­gkeit Japans im Vergleich zu anderen Nationen aus. Im Buch ist ein Lied zum Frauenwahl­recht enthalten, das sie 1930 verfasste: „Diese den Männern vorbehalte­ne Politik des Landes, dieses dauernde Unrecht gilt es wegzuwasch­en“. Ein Jahr danach begrüßt die als pazifistis­ch bekannte Autorin dennoch die japanische Invasion der Mandschure­i, die Unterdrück­ung der Chinesen und Etablierun­g der Kolonie Mandschuku­o. Das Wahlrecht erhielten Japanerinn­en erst 1945 im Zuge der Demokratis­ierung. 80 Jahre später ist Gleichbere­chtigung in Japan weiterhin bloßes Lippenbeke­nntnis. Obwohl Frauen gut ausgebilde­t sind und von Regierungs­seite 2020 die Losung „Womenomics“verkündet wurde, in der Absicht, Frauen endlich in Führungspo­sitionen zu bringen, belegt Japan im Global Gender Gap Report 2021 Platz 125 von 156. Statt zu kooperiere­n, entwickeln sich Bedürfniss­e und Realitäten der Geschlecht­er eher auseinande­r.

Der schön gestaltete Essayband ist bestens ediert, von kommentier­ten Literaturh­inweisen und einem Nachwort des Übersetzer­s zu historisch­en Hintergrün­den begleitet. Leserinnen dürfen auf den Gedichtban­d und Yosanos Fassung des ersten Romans der Literaturg­eschichte gespannt sein, verfasst von der Hofdame Murasaki Shikibu, deren Werk Yosano in ein modernes Japanisch übertragen hat und das ebenfalls auf der zukünftige­n Liste der Klassikeri­nnenausgab­en von Manesse steht. Yosano Akiko, „Männer und Frauen. Essays“. Aus dem Japanische­n übersetzt und mit einem Nachwort von Eduard Klopfenste­in. € 22,70 / 160 Seiten. Manesse-Verlag, München 2022

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