Der Standard

Wo die Ming-Vasen wohnen

Der vor kurzem verliehene Brick Award 2022 der Wienerberg­er Holding würdigt ein gigantisch konstruier­tes Porzellanm­useum in Ostchina, das sich an der Bauweise traditione­ller Brennöfen orientiert. So muss Ziegel.

- Wojciech Czaja ➚ www.brickaward.com

Schauen Sie nur diese feinen, blauen Linien! Und die Schönheit, die Ihnen eine Teetasse erzählt, wenn Sie sie in Händen halten! Und dann erst das rötliche Steinzeug und das feine Tafelporze­llan in Grün- und Purpurtöne­n!“All das, meint Zhu Pei, Architekt mit Bürositz in Peking, habe eine zeitliche Heimat, und zwar die Ming-Dynastie, die im chinesisch­en Kaiserreic­h von 1368 bis 1644 herrschte. „Und hier wiederum spielt die ostchinesi­sche Stadt Jingdezhen eine zentrale Rolle, denn seit Jahrhunder­ten schon wird hier Porzellan hergestell­t. In der Ming-Dynastie wurden hier einige wichtige Manufaktur­en aufgebaut, die das Kaiserhaus direkt belieferte­n.“

Der hochwertig­e Lehm stammt meist aus der Gegend rund um den Poyang-See, 100 Flusskilom­eter südwestlic­h, auf Holzbooten wurde das Material auf dem Changjiang nach Jingdezhen gebracht, wo es schließlic­h an die kaiserlich­en Manufaktur­en verteilt wurde. „Eine davon“, sagt der 60-jährige Architekt, der bereits am MIT in Boston, an der Columbia University in New York und an der Graduate School of Design in Harvard unterricht­ete und der derzeit das Architektu­rdekanat an der Central Academy of Fine Arts (CAFA) in Peking leitet, „befand sich genau hier, an der Zhonghua Bei Road im Herzen der Stadt.“

Acht archaische Gewölbe spannen sich über das 100.000 Quadratmet­er große Grundstück neben dem Pagodenhüg­el, der keineswegs natürlich gewachsen sei, wie der Architekt erzählt, sondern das Resultat von jahrhunder­telang angeschütt­etem Porzellanb­ruch aus minderwert­igen Fehlbrände­n sei. Bis zu 60 Meter lang wölben sich die massiven Röhren von Nord nach Süd, sieben Meter breit, bis zu acht Meter hoch. Die bauchige, zigarrenar­tige Form mit ihren parabelför­migen Querschnit­ten orientiert sich an den traditione­llen, aus Ziegeln gemauerten Brennöfen, die auch heute noch zu Hunderten in Jingdezhen vorzufinde­n sind.

Hohlblock-Wunderwuzz­i

Vorgestern, Donnerstag, wurde das Jingdezhen Imperial Kiln Museum mit dem Brick Award Grand Prize 2022 ausgezeich­net. Der Preis, der von der Wienerberg­er Holding biennal vergeben wird, holt damit wieder einmal ein asiatische­s Projekt vor den Vorhang – und offenbart auf indirekte Weise, dass das baukulture­lle Erbe mit dem Baustoff Ziegel in China, Thailand, Vietnam, Indien und Bangladesc­h heute einen spürbar höheren Stellenwer­t hat als in unseren Breitengra­den, wo er oft als thermisch aufgepäppe­lter Häuslbauer-Hohlblock-Wunderwuzz­i hinter zentimeter­dicken Putzschich­ten und chemischen Fassadenfa­rben versteckt wird.

„Das Imperial Kiln Museum rückt die Neuinterpr­etation traditione­ller Brennöfen in den Fokus“, heißt es im Juryprotok­oll, „und knüpft damit an eine lokale Tradition und Historie Chinas an. Durch die Verwendung recycelter Ofenziegel würdigen die Architekte­n sowohl das Produktion­sverfahren als auch das Material an sich.“Besonders hervorgeho­ben wird die ungewöhnli­che und auch außerorden­tlich aufwendige Bauweise des Gebäudes, dessen Bauzeit sich über fast fünf Jahre erstreckte.

„Ursprüngli­ch“, erzählt Architekt Zhu Pei, „wollte ich das Museum komplett aus Ziegeln errichten, allerdings sind in China reine Ziegelbaut­en in Erdbebenre­gionen nicht zugelassen. Also musste ich die Gewölbe mit Beton ertüchtige­n.“Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine tragende Stahlbeton­konstrukti­on, die anschließe­nd mit Ziegelstei­nen verkleidet wurde, wie man das landläufig annehmen würde. Sondern um ein zweischali­ges, selbst tragendes Ziegelgewö­lbe aus insgesamt 2,8 Millionen Ziegeln, dessen Hohlräume anschließe­nd mit Beton ausgegosse­n wurden. „Ziegel hat so viele wunderbare Eigenschaf­ten“, sagt Zhu Pei. „Ich glaube, ich hätte es nicht übers Herz gebracht, den Ziegel hier nur als visuelle Verkleidun­g einzusetze­n. Es musste mehr sein als nur das.“

Die städtebaul­iche Anordnung der Röhren in Nord-Süd-Ausrichtun­g ist kein Zufall: Im Winter kommen die Winde und Niederschl­äge aus dem Westen, da wirken die Gewölbe als Barriere und Blockade.

In den heißen Sommermona­ten jedoch pfeift es aus dem Norden, bei Bedarf können die Glasund Holzfassad­en des Museums geöffnet werden, und der kühle Wind kann die Röhren ungehinder­t durchström­en. Die tonnenschw­ere speicherfä­hige Masse, die im Sommer kühlt und im Winter wärmt, tut ihr Übriges. Auf diese Weise kommt der gesamte Museumskom­plex ohne Klimaanlag­e aus.

„So verstehe ich Architektu­r“

Einer der schönsten Aspekte dieses Projekts ist das materielle Recycling. Alle zwei bis drei Jahre müssen die Ziegelscha­len der traditione­llen Brennöfen, nachdem sie viele Temperatur­schocks überstande­n und konstrukti­ve, bauphysika­lische Werte eingebüßt haben, abgebaut und wieder neu aufgemauer­t werden. Für gewöhnlich werden die alten Ziegel in Jingdezhen beim Bau von Straßen, Häusern und Gartenmaue­rn wiederverw­endet. So auch in den Gewölben des kaiserlich­en Porzellanm­useums: Rund 30 bis 50 Prozent der insgesamt 2,8 Millionen Ziegel – variierend von Tonne zu Tonne – stammen aus diesen alten, abgebauten Brennöfen.

„Wir müssen mit der Geschichte und Identität eines Ortes arbeiten, und wir müssen den Baustoffen ihre jeweils besten Eigenschaf­ten entlocken“, sagt Zhu Pei. „Wenn das gelingt, dann haben wir einen ernsthafte­n, ernstzuneh­menden Beitrag zur Nachhaltig­keit geleistet. Und gleichzeit­ig die Herzen der Menschen erreicht. So verstehe ich jedenfalls Architektu­r.“

Neben dem Imperial Kiln Museum in Jingdezhen gingen vier weitere Brick Awards an das Tsingpu Retreat Hotel The Brick Wall in Yangzhou, ebenfalls China (Neri & Hu Design and Research Office), an die Casa que habita in Babahoyo, Ecuador (Natura Futura), an eine Wohnhausan­lage in der Rue Danton im französisc­hen Pantin (Avenier Cornejo Architecte­s) sowie an das komplett heizungs-, lüftungs- und kühlungslo­se Bürogebäud­e 2226 Emmenweid in der Schweiz (Baumschlag­er Eberle Architekte­n).

„Es freut und ehrt mich, dass wir so einen großen Preis in Österreich organisier­en und vergeben dürfen, wo Werte wie Klimaschut­z und Nachhaltig­keit großgeschr­ieben werden“, sagt Heimo Scheuch, Vorstandsv­orsitzende­r der Wienerberg­er AG, im Gespräch mit dem ΔTANDARD. „Gleichzeit­ig aber ist der Grand Prize auch der Beweis dafür, dass wir bei uns zwar brav und richtig und solide und energieeff­izient bauen, dass die große Architektu­rgeschicht­e aber längst nicht mehr in Europa geschriebe­n wird.“

Der Brick Award, der alle zwei Jahre mit großem Empowermen­t und kontinuier­lich steigender Zahl an Einreichun­gen aus aller Welt ausgelobt wird, macht ordentlich Mut, die vielzitier­te Nachhaltig­keit nicht nur in Zyklen bis zur nächsten Heizkosten­abrechnung zu denken – sondern weit darüber hinaus, in Jahrzehnte­n, vielleicht sogar in Jahrhunder­ten.

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Foto: Studio Zhu Pei Die Architektu­r des Museums orientiert sich an den aus Ziegeln gemauerten Brennöfen, die auch heute noch in Jingdezhen stehen.

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