Laurent Fabius warnt vor Zweifeln am Vorrang des EU-Rechts
Der französische Höchstgerichtspräsident und Ex-Premier ruft zur Wachsamkeit gegenüber Polen und Ungarn auf
Braucht Frankreich eine neue Verfassung, also eine Sechste Republik, mit weniger Macht für den Staatspräsidenten und einer Aufwertung des Parlaments? So lautet die Forderung des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, der mit seinem Linksbündnis die Parlamentswahl zu gewinnen hofft und das Amt des Premiers anstrebt.
Laurent Fabius, Präsident des französischen Verfassungsgerichtshofs, hat da seine Zweifel. Er sei der jetzigen Verfassung verpflichtet und halte sie für zeitgemäß, sagt er im STANDARD-Gespräch während eines Besuchs in Wien. „Ein Vorteil der französischen Verfassung ist, dass sie sich an verschiedene schwierige Situationen angepasst hat“, sagt der moderate Sozialist, der in den 1980er-Jahren unter François Mitterrand als jüngster Premier Frankreichs diente und in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Ministerposten besetzte. „Das System ist stabil und flexibel zugleich. Bevor wir etwas Grundlegendes verändern, sollten wir alle Vor- und Nachteile bedenken.“
„Ansteckendes“Verhalten
Sorgen bereitet Fabius, der seit 2016 das Verfassungsgericht leitet, die Haltung einiger EU-Staaten wie Ungarn und Polen, die den Vorrang des EU-Rechts nicht akzeptieren wollen. Fabius dazu: „Wer ein Mitglied im Klub sein will, muss sich an die Regeln halten. Wenn eine Regierung sich gegen das Unionsrecht stellt, haben wir Grund zur Sorge. Und wir müssen wachsam bleiben, denn das kann ansteckend sein.“
Angesprochen darauf, dass auch französische Präsidentschaftskandidatinnen und Präsidentschaftskandidaten, darunter Melénchon und die Rechtspolitikerin Marine Le Pen, das nationale Recht über das Unionsrecht stellen wollen, verweist Fabius auf die Verfassung, die den Spielraum des Parlaments einschränkt. „Ein Parlament braucht Leitprinzipien, an die es gebunden ist, und kann nicht alles entscheiden. Das wollen manche Damen und Herren nicht akzeptieren. Die glauben, das Parlament kann alles tun. Es ist die Aufgabe des Verfassungsgerichts, daran zu erinnern, dass Gesetze höheren Prinzipien entsprechen müssen, die über dem Gesetz stehen.“
Dass Länder wie Polen gerne das Beispiel des deutschen Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe anführen, das zumindest in einer Entscheidung zur Währungsunion den absoluten Vorrang des Europäischen Gerichtshofs infrage gestellt hat, hält Fabius’ österreichischer Gastgeber und Amtskollege Christoph Grabenwarter für unangebracht. „Der Gerichtshof in Karlsruhe ist ein stabilisierender Faktor in Europa. Wichtig ist ihm, dass das Parlament in allen grundlegenden Entscheidungen involviert ist“, sagt Grabenwarter. „Jeder Versuch, das Bundesverfassungsgericht für antieuropäische Zwecke zu nutzen, kann leicht zurückgewiesen werden.“
Fabius und Grabenwarter sehen eine zunehmend wichtige Rolle der Justiz in der europäischen Klimapolitik. Grabenwarter verweist darauf, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Prinzip der positiven Verpflichtungen für Umweltschutz bereits seit den 1980er-Jahren angewandt hat. „Es wäre nichts Neues, wenn ein Verfassungsgericht prüft, ob diese auch erfüllt worden sind.“
Immer mehr Klimaklagen
Auch in Frankreich würden die Klimaklagen zunehmen, sagt Fabius. „Das entspricht den Sorgen der Gesellschaft. Dieser Prozess beschleunigt sich, weil sich das Problem beschleunigt. Die Klimakrise ist die Aufgabe der Parlamente. Aber wenn es ein Problem gibt, dann wird es unsere Aufgabe.“