Der Horror der Realität in Brasilien und der Welt
In „Depois do Silêncio“zeigt Christiane Jatahy bei den Festwochen die Verwobenheit von Rassismus und Kapitalismus
Wenn man Jair Bolsonaro beim Amerika-Gipfel neben Joe Biden sitzen sieht, könnte man fast denken, der Mann wäre gar nicht so schlimm. Spricht man mit Bürgerinnen Brasiliens, bringt einen das aber auf den Boden der Tatsachen. Christiane Jatahy zum Beispiel. Von deren jüngster Trilogie wird nun der letzte Teil Depois do Silêncio bei den Wiener Festwochen zur Uraufführung gebracht. Die Trilogie handelt auch davon, was Bolsonaro in Brasilien anrichtet. Ihr Titel: Trilogie des Horrors.
Die 1968 in Rio de Janeiro geborene Theater- und Filmemacherin Jatahy bezieht in ihren Arbeiten Stellung zur sozialen und politischen Realität in ihrer Heimat und hat sich damit einen Namen gemacht: Anfang des Jahres wurde sie beim 50. Festival Internazionale del Teatro der Venedig-Biennale mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Tatsächlich zeichnet das Theater aus Brasilien eine dringliche Energie aus, wie sie dem europäischen Theater großteils abgeht. Warum? Weil es dringend ist!
Nicht zuletzt aufgrund der Regierung Bolsonaro, die zur Profitmaximierung auf Ausbeutung von Mensch und Natur setzt. Bolsonaro und seine Handlanger holzen den Regenwald ab, verseuchen Flüsse, zerstören die Lebensgrundlage indigener Völker und in letzter Konsequenz der Menschheit.
Toxische Männlichkeit
„Und warum?“, fragt Jatahy. „Wegen des Gelds natürlich. Es ist die Geschichte der Menschheit, nicht wahr? Ich versuche zu verstehen, was in Brasilien passiert, warum die Menschen diesen Mann wählen. Es ist sehr leicht, Menschen zu manipulieren, eine Fiktion zu schaffen. Und es ist leichter, daran zu glauben, als zu handeln, seine eigenen Privilegien aufzugeben.“All das thematisiert sie in ihrer Horrortrilogie. „Der Titel ist brutal, aber wir leben auch in brutalen Zeiten. Als Künstlerin ist es meine Verantwortung, darüber zu sprechen, was meinem Land, den Menschen dort, letztlich der ganzen Welt widerfährt.“
In Teil eins, Entre chien et loup, setzte sie sich, ausgehend von Lars von Triers Dogville, mit dem Phänomen des alltäglichen Faschismus auseinander. Wo Faschismus ist, ist toxische Männlichkeit nicht weit.
Diese war Thema in Before the Sky Falls, Teil zwei der Trilogie, in der Jatahy Shakespeares Macbeth mit einem Buch des Yanomani-Schamanen Davi Kopenawa verwob: The Falling Sky beschreibt die Philosophie der Yanomani, die glauben, dass sie von einer von Geistern beseelten Natur umgeben sind, die sie beschützt und die geachtet werden will. Für den letzten Teil der Trilogie, Depois do Silêncio (Nach der Stille), wollte Jatahy „den Raum noch mehr für diese andere, die schwarze, indigene Stimme öffnen. Ich bin eine beinahe weiße Frau, Teil einer privilegierten Klasse. Doch es gibt Menschen, die wesentlich stärker von der postkolonialen Dynamik betroffen sind. Was das angeht, hat sich nicht viel verändert.“
Erbe der Sklaverei
„Das“ist der Kolonialismus, dem sich Depois do Silêncio zuwendet – und damit der Verbindung von Rassismus und Kapitalismus. Brasilien war 1888 das letzte Land auf dem amerikanischen Kontinent, das die Sklaverei abschaffte, und die Spuren dieser grausamen Geschichte sind noch in die Körper und Köpfe eingeschrieben.
Als Ausgangspunkt dient Jatahy Itamar Vieira Júniors Roman Torto Arado: Er erzählt von Schwarzen und Indigenen in sogenannten Quilombolas – Siedlungen, die von geflüchteten Sklaven gegründet wurden –, die für ihr Recht auf ihr Land kämpfen. Diesen Stoff verknüpft Jatahy mit Material aus Eduardo Coutinho Dokumentarfilm Cabra Marcado para Morrer (Twenty Years Later, 1984), der von einem Aktivisten für die Rechte Indigener erzählt, der von Landbesitzern ermordet wurde.
Was bei aller Fülle an Bezügen aber nicht übersehen werden darf, ist die sinnliche Qualität der Arbeiten Jatahys, die nicht zuletzt von einer höchst produktiven Fusion von Film und Theater leben.
In Depois do Silêncio werden etwa Bilder aus Cabra Marcado para Morrer gezeigt. Dabei liege, wie Jatahy betont, die Montage der Filme in der Hand der Schauspielerinnen: „Sie sind auf der Bühne, sie entscheiden, was sie zeigen.“
Die Zukunft verändern
Es ist eine Art Zeitmaschine: „Ich bilde auf diese Weise Schichten, wie in der Geologie. Es geht nicht um das, was gesprochen wird, sondern um das, was sich zwischen diesen Schichten zeigt, was da ist. Ein Film kommt immer aus der Vergangenheit, das Theater spielt in der Gegenwart. Film auf die Bühne zu stellen bedeutet für mich, mit der Vergangenheit zu arbeiten, um die Zukunft zu verändern.“
Depois do Silêncio, von 15. bis 18. Juni im Odeon.
Die Reise nach Paris erfolgte auf Einladung der Wiener Festwochen.