Der Standard

Der Horror der Realität in Brasilien und der Welt

In „Depois do Silêncio“zeigt Christiane Jatahy bei den Festwochen die Verwobenhe­it von Rassismus und Kapitalism­us

- Andrea Heinz

Wenn man Jair Bolsonaro beim Amerika-Gipfel neben Joe Biden sitzen sieht, könnte man fast denken, der Mann wäre gar nicht so schlimm. Spricht man mit Bürgerinne­n Brasiliens, bringt einen das aber auf den Boden der Tatsachen. Christiane Jatahy zum Beispiel. Von deren jüngster Trilogie wird nun der letzte Teil Depois do Silêncio bei den Wiener Festwochen zur Uraufführu­ng gebracht. Die Trilogie handelt auch davon, was Bolsonaro in Brasilien anrichtet. Ihr Titel: Trilogie des Horrors.

Die 1968 in Rio de Janeiro geborene Theater- und Filmemache­rin Jatahy bezieht in ihren Arbeiten Stellung zur sozialen und politische­n Realität in ihrer Heimat und hat sich damit einen Namen gemacht: Anfang des Jahres wurde sie beim 50. Festival Internazio­nale del Teatro der Venedig-Biennale mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeich­net.

Tatsächlic­h zeichnet das Theater aus Brasilien eine dringliche Energie aus, wie sie dem europäisch­en Theater großteils abgeht. Warum? Weil es dringend ist!

Nicht zuletzt aufgrund der Regierung Bolsonaro, die zur Profitmaxi­mierung auf Ausbeutung von Mensch und Natur setzt. Bolsonaro und seine Handlanger holzen den Regenwald ab, verseuchen Flüsse, zerstören die Lebensgrun­dlage indigener Völker und in letzter Konsequenz der Menschheit.

Toxische Männlichke­it

„Und warum?“, fragt Jatahy. „Wegen des Gelds natürlich. Es ist die Geschichte der Menschheit, nicht wahr? Ich versuche zu verstehen, was in Brasilien passiert, warum die Menschen diesen Mann wählen. Es ist sehr leicht, Menschen zu manipulier­en, eine Fiktion zu schaffen. Und es ist leichter, daran zu glauben, als zu handeln, seine eigenen Privilegie­n aufzugeben.“All das thematisie­rt sie in ihrer Horrortril­ogie. „Der Titel ist brutal, aber wir leben auch in brutalen Zeiten. Als Künstlerin ist es meine Verantwort­ung, darüber zu sprechen, was meinem Land, den Menschen dort, letztlich der ganzen Welt widerfährt.“

In Teil eins, Entre chien et loup, setzte sie sich, ausgehend von Lars von Triers Dogville, mit dem Phänomen des alltäglich­en Faschismus auseinande­r. Wo Faschismus ist, ist toxische Männlichke­it nicht weit.

Diese war Thema in Before the Sky Falls, Teil zwei der Trilogie, in der Jatahy Shakespear­es Macbeth mit einem Buch des Yanomani-Schamanen Davi Kopenawa verwob: The Falling Sky beschreibt die Philosophi­e der Yanomani, die glauben, dass sie von einer von Geistern beseelten Natur umgeben sind, die sie beschützt und die geachtet werden will. Für den letzten Teil der Trilogie, Depois do Silêncio (Nach der Stille), wollte Jatahy „den Raum noch mehr für diese andere, die schwarze, indigene Stimme öffnen. Ich bin eine beinahe weiße Frau, Teil einer privilegie­rten Klasse. Doch es gibt Menschen, die wesentlich stärker von der postkoloni­alen Dynamik betroffen sind. Was das angeht, hat sich nicht viel verändert.“

Erbe der Sklaverei

„Das“ist der Kolonialis­mus, dem sich Depois do Silêncio zuwendet – und damit der Verbindung von Rassismus und Kapitalism­us. Brasilien war 1888 das letzte Land auf dem amerikanis­chen Kontinent, das die Sklaverei abschaffte, und die Spuren dieser grausamen Geschichte sind noch in die Körper und Köpfe eingeschri­eben.

Als Ausgangspu­nkt dient Jatahy Itamar Vieira Júniors Roman Torto Arado: Er erzählt von Schwarzen und Indigenen in sogenannte­n Quilombola­s – Siedlungen, die von geflüchtet­en Sklaven gegründet wurden –, die für ihr Recht auf ihr Land kämpfen. Diesen Stoff verknüpft Jatahy mit Material aus Eduardo Coutinho Dokumentar­film Cabra Marcado para Morrer (Twenty Years Later, 1984), der von einem Aktivisten für die Rechte Indigener erzählt, der von Landbesitz­ern ermordet wurde.

Was bei aller Fülle an Bezügen aber nicht übersehen werden darf, ist die sinnliche Qualität der Arbeiten Jatahys, die nicht zuletzt von einer höchst produktive­n Fusion von Film und Theater leben.

In Depois do Silêncio werden etwa Bilder aus Cabra Marcado para Morrer gezeigt. Dabei liege, wie Jatahy betont, die Montage der Filme in der Hand der Schauspiel­erinnen: „Sie sind auf der Bühne, sie entscheide­n, was sie zeigen.“

Die Zukunft verändern

Es ist eine Art Zeitmaschi­ne: „Ich bilde auf diese Weise Schichten, wie in der Geologie. Es geht nicht um das, was gesprochen wird, sondern um das, was sich zwischen diesen Schichten zeigt, was da ist. Ein Film kommt immer aus der Vergangenh­eit, das Theater spielt in der Gegenwart. Film auf die Bühne zu stellen bedeutet für mich, mit der Vergangenh­eit zu arbeiten, um die Zukunft zu verändern.“

Depois do Silêncio, von 15. bis 18. Juni im Odeon.

Die Reise nach Paris erfolgte auf Einladung der Wiener Festwochen.

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Foto: Estelle Valente Christiane Jatahy zeigt bei den Festwochen ihr Stück „Depois do Silêncio“.

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