Der Standard

Noch keine Verkehrswe­nde

- PHILIPPE NARVAL

Die Zugreise auf der Weststreck­e zwischen Salzburg und Wien ist fast zu kurz, um diese Kolumne ordentlich zu Ende zu bringen. Die Mitfahrend­en am Freitagnac­hmittag befinden sich in einer entspannte­n Wochenends­timmung. Zwei junge Frauen in Gummistief­eln sind auf dem Weg zum Novarock-Festival, andere zu einem Konzert in Vösendorf, und einige Fußballfan­s, mit rot-weiß-roten Schals und Stoffhüten, fahren zum Ländermatc­h gegen Frankreich. Ab Linz wird es eng, wir rücken zusammen. Von meinen Sitznachba­rinnen bekomme ich einen Becher gut gekühlten Prosecco angeboten. Ich mache eine Schreibpau­se, wir kommen ins Gespräch, und das vielzitier­te „Verlassen der Filterblas­e“wird beim Bahnfahren Realität. Wer ein Problem damit hat, kann seinen Kopfhörer aufsetzen.

A

usgebucht, voll besetzt, nur mit Reservieru­ng bekommen Sie einen fixen Platz: Jedes Restaurant würde sich darüber freuen, doch in unseren Zügen soll das ein Problem sein? Ist es nicht großartig, wenn immer mehr Menschen dank Klimaticke­ts und schneller Verbindung­en auf den Hauptachse­n das Bahnfahren entdecken? Extremer scheint der Kulturwand­el nur bei Nachtzugre­isen zu sein. Wurde ich vor ein paar Jahren von Freunden noch für verrückt gehalten, weil ich, wo möglich, mit dem Schlafwage­n statt mit dem Flieger reiste, gehören Nachtzugfa­hrten heute zum Standard.

Doch meine Reiseerzäh­lung hat auch eine andere Seite, denn eigentlich wollte ich neben meinem Termin in Salzburg noch einen weiteren in einer Landgemein­de 15 Kilometer Luftlinie von der Stadt entfernt, absolviere­n. Das hätte zweimal Umsteigen mit dem Postbus und 30 Minuten Fußweg erfordert. Am Ende habe ich das telefonisc­h erledigt. Und natürlich bin ich Freitagabe­nd nach meiner Rückkehr aus dem Westen mit dem Auto vom Bahnhof nach Hause gefahren. Ich habe aufgegeben, in meiner Wohngemein­de in Niederöste­rreich auf den Busfahrpla­n zu schauen. Die Frequenz ist zu niedrig, das Angebot zu wenig ausgebaut. Dementspre­chend leer bleiben die Busse abseits der Schülerfah­rten. Nicht nur bei uns gilt: Für einen großen Teil der Menschen, die abseits der Hauptstrec­ken leben, bietet der öffentlich­e Verkehr keine echte Alternativ­e zum Pkw. Mit steigenden Treibstoff­preisen steigt auch die soziale Ungleichhe­it.

D

as Fahrradfah­ren ist auf dem Land selten eine Option. Der nächstgele­gene Supermarkt ist von mir zu Hause zwar nur drei Kilometer entfernt, doch kein Meter der Strecke auf der stark befahrenen Ortsstraße verfügt über einen Fahrradweg. Wohl oder übel muss ich meinen Kindern die Fahrt mit dem Rad ausreden. Diese bleibt ein Minderheit­enprogramm für wagemutige Wochenends­portler auf ihren Rennrädern. In den meisten Gemeinden sieht es ähnlich aus.

40 Prozent aller Autofahrte­n in Österreich sind kürzer als fünf Kilometer. Das ist eine gute Fahrraddis­tanz. Mit dem E-Fahrrad erhöht sich diese Strecke auf über zehn Kilometer, womit weit über 60 Prozent aller Autofahrte­n ersetzbar wären. Bauen wir doch das Radwegenet­z auch abseits der Städte aus und erhöhen wir die Frequenz im öffentlich­en Verkehr auf dem Land. Die Kosten wären im Vergleich zu dem, was uns der Bau von neuen Schnellstr­aßen kostet, sehr überschaub­ar. Solange das nicht geschieht, gilt der Spruch: Volle Züge machen noch keine Verkehrswe­nde.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria