Regierung entschärft kalte Progression für Mittelschicht
Entlastungspaket mit höherem Klimabonus CO2-Preis wird auf Herbst verschoben
Wien – Die türkis-grüne Koalition stellt heute, Dienstag, ihre AntiTeuerungs-Initiative vor. Das „Geldzurück-Paket“, wie es von der Bundesregierung genannt wird, soll breite Teile der Bevölkerung entlasten. Geplant sind demnach eine teilweise Abschaffung der kalten Progression und eine Anpassung der Sozialleistungen an die Inflation. Wie berichtet, soll zudem der CO₂Preis von Juli auf Oktober verschoben werden. Die Kompensation durch den Klimabonus wird höher ausfallen als bisher geplant. Alle Menschen in Österreich sollen unabhängig von ihrem Wohnort ab Oktober einen Bonus in der Höhe von 250 Euro erhalten. Als größte Überraschung im Entlastungspaket zählt die geplante Entschärfung der kalten Progression. Die Reform wird zwar seit Jahren diskutiert, ernsthaft in Angriff genommen hat das Projekt aber bisher keine Regierung. Die kalte Progression führt dazu, dass Steuerpflichtige aufgrund höherer Gehälter automatisch in höhere Steuerstufen rutschen. Die Steuerlast wird also größer, obwohl das reale Einkommen nicht steigt. Je höher die Inflation, desto größer der Effekt. Die aktuelle Teuerung spielte den Befürwortern einer Abschaffung nun in die Hände. Allerdings soll die Reform nur für die unteren Einkommensgruppen gelten.
Für ein Phänomen, das inzwischen niemand in Österreich haben will, hält sie sich schon ziemlich lange: Die Rede ist von der kalten Progression, den automatischen Steuererhöhungen, die Einkommensbezieher betreffen. Seit Jahren wird über ihre Abschaffung diskutiert, immer wieder wurde das in Wahlkämpfen von allen großen Parteien angekündigt. Passiert ist bisher allerdings nichts.
Angesichts der aktuell hohen Inflationsrate und vermutlich der schwachen Umfragewerte der Koalition sieht es so aus, als würden ÖVP und Grüne nun einen Anlauf wagen und das Thema tatsächlich angehen. Die Gespräche zu einem Entlastungspaket der beiden Parteien waren am Montag in der Zielgeraden, am Dienstag werden die Maßnahmen präsentiert. Neben erwarteten Schritten wie einer Verschiebung der Co2-Steuer und einer Anhebung des Klimageldes für alle deutet alles auf eine Überraschung hin: Im Paket enthalten sind auch Maßnahmen, um die kalte Progression abzufedern. Regierungsvertreter sprachen deshalb am Montag schon von einem „Mega-Entlastungspaket“.
Wo die Steuer zupackt
Unter kalter Progression wird der Effekt verstanden, der eintritt, wenn in einem progressiven Steuersystem Steuerstufen und Freibeträge nicht an die Inflation angepasst werden. Zur Erklärung: Ein Jahreseinkommen unter 11.000 Euro ist in Österreich steuerfrei. Das Einkommen von 11.000 bis 18.000 Euro wird mit 20 Prozent versteuert. Das geht so weiter bis zu 55 Prozent für Spitzenverdiener ab einer Million Euro.
Durch die hohe Inflation dürften auch die Einkommen in den kommenden Monaten kräftiger angehoben werden im Rahmen der Kollektivverträge. Dadurch rutscht ein größerer Teil des Gehaltes von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in eine höhere Steuerstufe, die gesamte Steuerbelastung steigt also. Wenn damit auch die real, also unter Berücksichtigung der Inflation, die Steuerlast steigt, dann ist das auch so gedacht: Wer mehr verdient, soll höher besteuert werden. Aber das Einkommensplus, das nur zur Abdeckung der Inflation dient: Wenn hier die Steuer zupackt, ist das die kalte Progression.
Die Regierung hätte mehrere Möglichkeiten. Eine besteht darin, einen „Tarif auf Rädern“einzuführen wie in der Schweiz, das heißt, alle Tarifstufen jährlich an die Inflation anzupassen. Während zunächst erwartet wurde, dass nicht alle Steuerstufen in Österreich einer Anpassung unterzogen werden, sah es Montagnachmittag so aus, als wäre das doch der Fall. Gutverdiener würden natürlich jedenfalls profitieren – und zwar mit jenem Teil ihres Einkommens, der unteren Steuerstufen unterliegt. Die Anpassung an die Inflation in der Zukunft müsste auch nicht automatisch beschlossen werden.
Ein Vorbild dazu findet sich in Deutschland: Dort gibt es ein Gesetz aus dem Jahr 2012, das Regierungen eine Entschädigung für die kalte Progression nahelegt. Demnach muss das Finanzministerium alle zwei Jahre einen Bericht dazu vorlegen, wie sich die Progression entwickelt. Die Entscheidung zu handeln und Steuern zu senken muss aber immer der Bundestag treffen.
In Österreich haben sich zuletzt die beiden Forschungsinstitute Wifo und IHS dagegen ausgesprochen, die kalte Progression automatisch abzuschaffen. Sie empfehlen stattdessen, Steuerstufen einmalig anzuheben, sich für das Ende der kalten Progression noch einmal intensiver Zeit zu nehmen und dann zu entscheiden.
Was sind die Argumente für und gegen die Abschaffung? Tatsache ist, dass der Staat in Österreich seit Jahren gleich stark zugreift: Die Lohnsteuerquote, also wie viel Steuern von ihren Einkommen die Bürger im Verhältnis zu ihren Bruttoeinkommen zahlen, ist seit Jahrzehnten konstant. Die Quote steigt immer, bis eine Entlastung sie senkt. Im Rahmen dessen werden alle paar Jahre die Beschäftigten für die kalte Progression abgegolten.
Eine jährliche Anpassung würde bedeuten, dass es bei der Entlastung keine Zeitverzögerung mehr gibt. Monika Köppl-Turyna, Direktorin des arbeitgebernahen Instituts Eco Austria, bewertet das positiv: Die bisherigen Anpassungen waren oft wahlkampfgetrieben, hier einen vorhersehbaren Pfad zum Schutz der Kaufkraft zu geben sei sinnvoll.
Eine Streitfrage ist, wer wie sehr von der Maßnahme profitiert. Das arbeitnehmernahe Momentum-Institut
hat errechnet, dass Haushalte mit dem niedrigsten Fünftel der Einkommen im Schnitt netto nur 72 Euro pro Jahr mehr zur Verfügung hätten, wäre die kalte Progression 2022 abgeschafft worden. Bei Haushalten im Fünftel mit den höchsten Einkommen wären es 552 Euro. Unterstellt wurde eine Inflationsrate von etwa sechs Prozent. Die Entlastung oben ist also deutlich höher, was die Maßnahme sozial wenig treffsicher erscheinen lässt. Gegenargument: Wer Wohlhabender ist, zahlt auch mehr Steuern, daher wird in absoluten Beträgen dort automatisch mehr entlastet.
Relativ zum Einkommen entlastet wird am stärksten bei der oberen Mittelschicht, dem vierten Fünftel der Einkommensbezieher.
Schwindende Reserve
Eine zweite Frage ist, wie sich ein Ende der kalten Progression auf die Staatsfinanzen auswirken wird. Bisher hat sich ja der Staat durch das Phänomen immer eine Reserve aufgebaut. Der Ökonom Peter Brandner argumentiert, dass eine automatische Anpassung der Steuerstufen an die Inflation dazu führen wird, dass die Bürgerinnen und Bürger überkompensiert werden. Wie das geht?
Viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen profitieren ja nicht von steigenden Einkommen, zum Beispiel, weil sie in Karenz waren oder ihren Job gewechselt haben oder in Pension gehen. Bei einer automatischen Anhebung der Tarifstufen würden sie dennoch gewinnen und weniger Steuern bezahlen, obwohl sie im strengeren Sinn nicht der kalten Progression unterliegen. Wenn der Staat Tarife automatisch anpasst, würde ein Drittel der Ausgaben für Überkompensation ausgegeben werden, so Brandner.
Die Reserve des Staates würde deutlich kleiner werden, wenn wohl auch nicht verschwinden, da ja auch jenseits der Inflation Lohnsteigerungen stattfinden.