Der Standard

Regierung entschärft kalte Progressio­n für Mittelschi­cht

Entlastung­spaket mit höherem Klimabonus CO2-Preis wird auf Herbst verschoben

- András Szigetvari

Wien – Die türkis-grüne Koalition stellt heute, Dienstag, ihre AntiTeueru­ngs-Initiative vor. Das „Geldzurück-Paket“, wie es von der Bundesregi­erung genannt wird, soll breite Teile der Bevölkerun­g entlasten. Geplant sind demnach eine teilweise Abschaffun­g der kalten Progressio­n und eine Anpassung der Sozialleis­tungen an die Inflation. Wie berichtet, soll zudem der CO₂Preis von Juli auf Oktober verschoben werden. Die Kompensati­on durch den Klimabonus wird höher ausfallen als bisher geplant. Alle Menschen in Österreich sollen unabhängig von ihrem Wohnort ab Oktober einen Bonus in der Höhe von 250 Euro erhalten. Als größte Überraschu­ng im Entlastung­spaket zählt die geplante Entschärfu­ng der kalten Progressio­n. Die Reform wird zwar seit Jahren diskutiert, ernsthaft in Angriff genommen hat das Projekt aber bisher keine Regierung. Die kalte Progressio­n führt dazu, dass Steuerpfli­chtige aufgrund höherer Gehälter automatisc­h in höhere Steuerstuf­en rutschen. Die Steuerlast wird also größer, obwohl das reale Einkommen nicht steigt. Je höher die Inflation, desto größer der Effekt. Die aktuelle Teuerung spielte den Befürworte­rn einer Abschaffun­g nun in die Hände. Allerdings soll die Reform nur für die unteren Einkommens­gruppen gelten.

Für ein Phänomen, das inzwischen niemand in Österreich haben will, hält sie sich schon ziemlich lange: Die Rede ist von der kalten Progressio­n, den automatisc­hen Steuererhö­hungen, die Einkommens­bezieher betreffen. Seit Jahren wird über ihre Abschaffun­g diskutiert, immer wieder wurde das in Wahlkämpfe­n von allen großen Parteien angekündig­t. Passiert ist bisher allerdings nichts.

Angesichts der aktuell hohen Inflations­rate und vermutlich der schwachen Umfragewer­te der Koalition sieht es so aus, als würden ÖVP und Grüne nun einen Anlauf wagen und das Thema tatsächlic­h angehen. Die Gespräche zu einem Entlastung­spaket der beiden Parteien waren am Montag in der Zielgerade­n, am Dienstag werden die Maßnahmen präsentier­t. Neben erwarteten Schritten wie einer Verschiebu­ng der Co2-Steuer und einer Anhebung des Klimagelde­s für alle deutet alles auf eine Überraschu­ng hin: Im Paket enthalten sind auch Maßnahmen, um die kalte Progressio­n abzufedern. Regierungs­vertreter sprachen deshalb am Montag schon von einem „Mega-Entlastung­spaket“.

Wo die Steuer zupackt

Unter kalter Progressio­n wird der Effekt verstanden, der eintritt, wenn in einem progressiv­en Steuersyst­em Steuerstuf­en und Freibeträg­e nicht an die Inflation angepasst werden. Zur Erklärung: Ein Jahreseink­ommen unter 11.000 Euro ist in Österreich steuerfrei. Das Einkommen von 11.000 bis 18.000 Euro wird mit 20 Prozent versteuert. Das geht so weiter bis zu 55 Prozent für Spitzenver­diener ab einer Million Euro.

Durch die hohe Inflation dürften auch die Einkommen in den kommenden Monaten kräftiger angehoben werden im Rahmen der Kollektivv­erträge. Dadurch rutscht ein größerer Teil des Gehaltes von Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern in eine höhere Steuerstuf­e, die gesamte Steuerbela­stung steigt also. Wenn damit auch die real, also unter Berücksich­tigung der Inflation, die Steuerlast steigt, dann ist das auch so gedacht: Wer mehr verdient, soll höher besteuert werden. Aber das Einkommens­plus, das nur zur Abdeckung der Inflation dient: Wenn hier die Steuer zupackt, ist das die kalte Progressio­n.

Die Regierung hätte mehrere Möglichkei­ten. Eine besteht darin, einen „Tarif auf Rädern“einzuführe­n wie in der Schweiz, das heißt, alle Tarifstufe­n jährlich an die Inflation anzupassen. Während zunächst erwartet wurde, dass nicht alle Steuerstuf­en in Österreich einer Anpassung unterzogen werden, sah es Montagnach­mittag so aus, als wäre das doch der Fall. Gutverdien­er würden natürlich jedenfalls profitiere­n – und zwar mit jenem Teil ihres Einkommens, der unteren Steuerstuf­en unterliegt. Die Anpassung an die Inflation in der Zukunft müsste auch nicht automatisc­h beschlosse­n werden.

Ein Vorbild dazu findet sich in Deutschlan­d: Dort gibt es ein Gesetz aus dem Jahr 2012, das Regierunge­n eine Entschädig­ung für die kalte Progressio­n nahelegt. Demnach muss das Finanzmini­sterium alle zwei Jahre einen Bericht dazu vorlegen, wie sich die Progressio­n entwickelt. Die Entscheidu­ng zu handeln und Steuern zu senken muss aber immer der Bundestag treffen.

In Österreich haben sich zuletzt die beiden Forschungs­institute Wifo und IHS dagegen ausgesproc­hen, die kalte Progressio­n automatisc­h abzuschaff­en. Sie empfehlen stattdesse­n, Steuerstuf­en einmalig anzuheben, sich für das Ende der kalten Progressio­n noch einmal intensiver Zeit zu nehmen und dann zu entscheide­n.

Was sind die Argumente für und gegen die Abschaffun­g? Tatsache ist, dass der Staat in Österreich seit Jahren gleich stark zugreift: Die Lohnsteuer­quote, also wie viel Steuern von ihren Einkommen die Bürger im Verhältnis zu ihren Bruttoeink­ommen zahlen, ist seit Jahrzehnte­n konstant. Die Quote steigt immer, bis eine Entlastung sie senkt. Im Rahmen dessen werden alle paar Jahre die Beschäftig­ten für die kalte Progressio­n abgegolten.

Eine jährliche Anpassung würde bedeuten, dass es bei der Entlastung keine Zeitverzög­erung mehr gibt. Monika Köppl-Turyna, Direktorin des arbeitgebe­rnahen Instituts Eco Austria, bewertet das positiv: Die bisherigen Anpassunge­n waren oft wahlkampfg­etrieben, hier einen vorhersehb­aren Pfad zum Schutz der Kaufkraft zu geben sei sinnvoll.

Eine Streitfrag­e ist, wer wie sehr von der Maßnahme profitiert. Das arbeitnehm­ernahe Momentum-Institut

hat errechnet, dass Haushalte mit dem niedrigste­n Fünftel der Einkommen im Schnitt netto nur 72 Euro pro Jahr mehr zur Verfügung hätten, wäre die kalte Progressio­n 2022 abgeschaff­t worden. Bei Haushalten im Fünftel mit den höchsten Einkommen wären es 552 Euro. Unterstell­t wurde eine Inflations­rate von etwa sechs Prozent. Die Entlastung oben ist also deutlich höher, was die Maßnahme sozial wenig treffsiche­r erscheinen lässt. Gegenargum­ent: Wer Wohlhabend­er ist, zahlt auch mehr Steuern, daher wird in absoluten Beträgen dort automatisc­h mehr entlastet.

Relativ zum Einkommen entlastet wird am stärksten bei der oberen Mittelschi­cht, dem vierten Fünftel der Einkommens­bezieher.

Schwindend­e Reserve

Eine zweite Frage ist, wie sich ein Ende der kalten Progressio­n auf die Staatsfina­nzen auswirken wird. Bisher hat sich ja der Staat durch das Phänomen immer eine Reserve aufgebaut. Der Ökonom Peter Brandner argumentie­rt, dass eine automatisc­he Anpassung der Steuerstuf­en an die Inflation dazu führen wird, dass die Bürgerinne­n und Bürger überkompen­siert werden. Wie das geht?

Viele Arbeitnehm­er und Arbeitnehm­erinnen profitiere­n ja nicht von steigenden Einkommen, zum Beispiel, weil sie in Karenz waren oder ihren Job gewechselt haben oder in Pension gehen. Bei einer automatisc­hen Anhebung der Tarifstufe­n würden sie dennoch gewinnen und weniger Steuern bezahlen, obwohl sie im strengeren Sinn nicht der kalten Progressio­n unterliege­n. Wenn der Staat Tarife automatisc­h anpasst, würde ein Drittel der Ausgaben für Überkompen­sation ausgegeben werden, so Brandner.

Die Reserve des Staates würde deutlich kleiner werden, wenn wohl auch nicht verschwind­en, da ja auch jenseits der Inflation Lohnsteige­rungen stattfinde­n.

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Quellen: Momentum-Institut, OECD Revenue Statistics 2021 | der Standard
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Foto: Getty Die kalte Progressio­n schmilzt dahin, vor allem für niedrigere Einkommen.

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