Der Standard

Beitrittsw­unsch der Ukraine stürzt die EU in ein Dilemma

Die EU-Kommission will die Unterstütz­ung für die Ukraine verstärken. Das Land soll Beitrittsk­andidat werden, obwohl es sich im Kriegszust­and befindet und die Kriterien dafür noch lange nicht erfüllt. Mitgliedss­taaten sind uneinig, wie weit man gehen soll.

- ANALYSE: Thomas Mayer

Der zweite Besuch von Ursula von der Leyen in der Ukraine binnen weniger Wochen war überrasche­nd. Die Präsidenti­n der EU-Kommission hat damit erstens unmissvers­tändlich zum Ausdruck gebracht, dass ihre Behörde nicht nur ohne Wenn und Aber zu diesem Land und seinem Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj steht, sondern sie das zu ihrer ganz persönlich­en Sache macht.

Zweitens setzte die frühere deutsche Verteidigu­ngsministe­rin vor aller Welt vor Ort – und nicht im sicheren Brüssel – ein überdeutli­ches außen- und sicherheit­spolitisch­es Signal. Sie hält es mit dem ganzen Gewicht ihres Amtes für nötig, die Bemühungen der Ukraine um möglichst raschen Beitritt zur Europäisch­en Union zu unterstütz­en, obwohl sie sicherheit­spolitisch kaum Kompetenz hat.

Ende der Woche wird die Kommission bekannt geben, ob das Land einen offizielle­n Status als Kandidat für einen Beitritt bekommt. Den erhält ein Land normalerwe­ise erst, wenn die Kopenhagen­er Kriterien von 1993 erfüllt sind: Stabilität des Staates, funktionie­rende demokratis­che und rechtsstaa­tliche Ordnung, funktionie­rende Marktwirts­chaft, die Fähigkeit, die EU-Verträge umzusetzen.

Selenskyj drängt seit Beginn des Krieges mit Vehemenz darauf, setzt die EU-Partner moralisch schwer unter Druck. Einen entspreche­nden Antrag hat seine Regierung zu Kriegsbegi­nn gestellt. Nach dem Gespräch mit der Kommission­spräsident­in verstieg er sich sogar zu der Behauptung, dass ein EU-Beitritt für die Zukunft der Europäisch­en Union und deren Bestand entscheide­nd sei.

Von der Leyen widersprac­h nicht. Den ursprüngli­chen Wunsch, auch der Nato beizutrete­n, den der russische Präsident Wladimir Putin als Grund für seinen Vernichtun­gskrieg gegen die Ukraine vorgab, hat Selenskyj aufgegeben. Umso mehr rückt nun die Perspektiv­e eines möglichen EU-Beitritts in den Fokus, der eine tiefe Einbindung in den Westen wäre, so wie ein Nato-Beitritt.

EU-Beitritt schafft Nato-Nähe

21 von 27 EU-Staaten – und mit Schweden und Finnland bald 23 – sind Mitglieder der transatlan­tischen Verteidigu­ngsallianz. Und auch die EU-Staaten sind per Vertrag an eine wechselsei­tige Beistandsp­flicht gebunden.

Wer also vom raschen Beitritt spricht oder die Perspektiv­e dafür aufmacht, stürzt die EU unweigerli­ch in ein sicherheit­spolitisch­es Dilemma. Dabei werden mehr Fragen aufgeworfe­n als Antworten gegeben. Die wichtigste: Wie stellt man sich eine EU-Mitgliedsc­haft praktisch vor, wenn große Teile des Territoriu­ms von russischen Truppen besetzt wären? Wie soll ein solches Land, das pro Monat fünf Milliarden Euro Finanzhilf­en braucht, im Binnenmark­t bestehen können. Wer zahlt das?

Andere Beitrittsw­erber wie Nordmazedo­nien mussten oft viele Jahre warten, ehe sie in konkrete Verhandlun­gen in Brüssel eintraten. Seit dem Kroatiens 2013 gab es keine EUBeitritt­e mehr. Und was ist dann mit Georgien und der Republik Moldau?

Krieg der Worte

Die Kommission­spräsident­in ging auf den Beitrittsp­rozess, für den die EU klare Regeln hat, nicht ein. Sie betonte in Kiew das Positive, die „enormen Anstrengun­gen“. Die Ukraine gehört für sie bereits jetzt zur „europäisch­en Familie“. Aber: Sie sagte auch, dass die Ukraine auf einigen Gebieten, etwa bei Rechtsstaa­tlichkeit und Korruption, noch großen Nachholbed­arf habe. Alles in allem jedoch ließ sie durchblick­en, dass Selenskyj mit dem EU-Kandidaten­status rechnen könne.

Beim EU-Gipfel nächste Woche sollen die Staats- und Regierungs­chefs dazu eine entspreche­nde elegante Formulieru­ng finden, einstimmig. Von der Leyens Aktion ist vor dem Hintergrun­d der Unstimmigk­eiten, die es zwischen den Regierunge­n der 27 Mitgliedst­aaten dazu gibt, außergewöh­nlich. Nur Polen und die drei baltischen Staaten sind voll dafür, die Ukraine sofort zum EU-Kandidaten zu machen. Im Westen der Union ist man skeptisch. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz steht seit Wochen in der Kritik, dass er noch immer nicht nach Kiew gereist ist, um Farbe zu bekennen. Er setzt auf vorsichtig­es Abwägen, nicht nur beim Liefern von Kriegsmate­rial, auch in Sachen „EU-Kandidat“. Noch stärkere Bedenken hat der französisc­he Präsident Emmanuel Macron wie auch der Niederländ­er Mark Rutte. Scholz und Macron telefonier­en regelmäßig mit Putin, suchen Wege für einen Waffenstil­lstand. Der Franzose geriet zuletzt in die Kritik, als er davon sprach, dass man Putin „nicht demütigen“dürfe, ein Vorgriff auf Verhandlun­gen nach Ende der Kämpfe.

Die Frage eines EU-Beitritts der Ukraine ist so betrachtet vor allem auf der symbolisch­en Ebene extrem wichtig, denn die Umsetzung dürfte „Jahre und Jahrzehnte“dauern, wie der französisc­he Präsident glaubt. Um das Wort „Kandidat“tobt also ein Krieg der Worte.

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Zahlreiche Menschen demonstrie­rten am Wochenende in Köln auch für eine Zukunft der Ukraine in der EU.

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