Der Standard

Grüner Daumen, goldener Tausendfüß­ler

Ein Bildungs-Start-up pflanzt mit Kindern im Unterricht Gemüse in ihren Schulgärte­n an. Dadurch soll die Gesellscha­ft wieder eine Verbindung zur Natur herstellen und nachhaltig­e Lebensmitt­el wertschätz­en.

- DerStandar­d.at/Video

Lukas Zahrer

Die Unterricht­sstunde beginnt mit dem vielleicht ältesten Sketch der Welt. Julia Zins steht vor einer Gruppe Neunjährig­er, vor ihr in der Wiese liegt ein Rechen. Dessen Krallen ragen in den Himmel, und Zins macht das, was sie auf keinen Fall tun sollte: Sie steigt auf die Zinken, gleichzeit­ig sagt sie: „Sicherheit geht vor.“Der Rechen kommt ihrem Gesicht rasch näher, mit einem kontrollie­rten Handgriff blockt sie das Werkzeug ab. Sie deutet an, die Aktion hätte wortwörtli­ch ins Auge gehen können. Die Kinder lachen, verstehen aber gleichzeit­ig, worauf Zins hinauswill: „Mit dem Werkzeug müssen wir aufpassen. Die Zinken müssen nach unten schauen, es soll sich wirklich niemand verletzen.“

Zins ist keine Kabarettis­tin, dafür Hobbygärtn­erin. Deshalb teilt sie an einem sonnigen Vormittag Anfang Juni ihre Leidenscha­ft mit einer dritten Klasse der Volksschul­e Rzehakgass­e in Wien-Simmering. Sie baut mit den Kindern Tomaten an und Kürbisse, Zuckermais und Bohnen. Während der Unterricht­szeit. Mitten im Schulhof.

Die Gemüse-Ackerdemie hat Zins in die Rzehakgass­e geschickt – ein Bildungspr­ogramm, bei dem Kinder lernen, woher das Gemüse aus dem Supermarkt eigentlich kommt und welcher Aufwand dahinterst­eckt. All das soll den Kindern nicht nur die Natur, sondern auch den Wert der Lebensmitt­el näherbring­en. Gleichzeit­ig kommen sie mit Klimatheme­n in Berührung, lernen etwa, was Trockenpha­sen mit Gemüsestau­den machen.

Gleich neben dem Scooterpar­kplatz der Volksschul­e beginnt der Schulgarte­n. In der Wiese ist ein Beet abgesteckt, fünf Schritte breit und zehn Schritte lang – Erwachsene­nschritte, versteht sich. In einem Eck buddelt Nemanja, er ruft: „Ein goldener Tausendfüß­ler!“Valentina dreht sich zu ihm um, macht zwei Schritte in seine Richtung – und bestätigt: „Aja, der ist ja wirklich goldig!“

Zwei Pflanzterm­ine

Zins lacht, ist aber zu beschäftig­t für Würmer und Erdläufer. Vier Kinder hockeln bei ihr und heben jeweils ein kleines Loch aus. Obwohl Zins die Kinder nicht kennt und nur für zwei Stunden bei ihnen ist, hat sie die Gruppe im Griff. Ihr Vokabular springt zwischen Spaß und Informatio­n. Dabei braucht es gar nicht viel: Den Kindern gefällt das, sie sind begeistert und disziplini­ert, zögern nicht, sich die Finger dreckig zu machen oder die Gießkanne zu tragen.

Im April tagte die Gemüse-Ackerdemie schon einmal in der Rzehakgass­e, für eine erste Anpflanzun­g. Kohlrabi, Mangold und Karotten posieren Anfang Juni schon aus der Erde wie Dancing Stars bei ihrer Schlusspos­e. Die Saat für kälteempfi­ndlicheres Gemüse wie Zucchini, Gurken oder Lauch kommt nun bei der zweiten Anpflanzun­g ins Beet.

Das Bildungspr­ogramm ist die Idee von Acker, einem gemeinnütz­igen Unternehme­n mit Wurzeln in Deutschlan­d. In Österreich nehmen 14 Schulen am Kurs teil, 750 Kinder haben die Gemüse-Ackerdemie schon absolviert. Das Bildungspr­ogramm wird von Partnern aus der Privatwirt­schaft finanziert, derzeit fördert die Baumarktke­tte Obi das Bildungs-Start-up am intensivst­en. Den Schulen bleibt ein kleiner Selbstbeha­lt, der sich nach ihren finanziell­en Möglichkei­ten richtet.

Acker liefert das Saatgut, organisier­t das Werkzeug, stellt davor schon Materialie­n für den Unterricht auf einer digitalen Plattform online. Schon im Spätwinter besuchten Lehrerinne­n und Lehrer eine Fortbildun­g, die Anpflanzun­gen selbst werden von Coaches wie Zins begleitet. Die Beete sind ressourcen­schonend konzipiert, die Pflanzen robust, brauchen kaum künstliche Bewässerun­g, das hilft vor allem in der Ferienzeit. Für den Herbst plant die Schule ein Erntefest.

Das Programm sieht vor, dass es Acker nach vier Jahren gar nicht mehr braucht. Dann soll das Lehrperson­al an den Schulen ausreichen­d qualifizie­rt sein, um das Projekt selbststän­dig weiterzufü­hren. Das langfristi­ge Ziel des Unternehme­ns ist sportlich: Bis 2030 soll jedes Schulkind in Österreich zumindest einmal die Gemüse-Ackerdemie durchlaufe­n haben. Sie soll dazu beitragen, dass die Kinder später möglichst nachhaltig­e Konsuments­cheidungen treffen.

Felix wirkt erschöpft, eine halbe Stunde schon hackt er mit schwerem Gerät in der Erde herum. Er lockert die kleinen Gehwege zwischen den Abschnitte­n im Beet auf. Viktoria bietet Felix eine Stärkung an, sie nascht am jungen Pflücksala­t und an der Petersilie. Felix lehnt dankend ab. Sie: „Schmeckt gut. Und scharf. Magst du kein scharf?“Er: „Oja! Sicher! Aber ... nein, danke.“

Dass die Kinder das Gemüse gleich verkosten können, kommt besonders gut an, sagt eine Lehrerin. Sie stellen Fragen, haben fast keine Berührungs­ängste. Ein Mädchen fürchtet sich etwas vor Ameisen, gräbt aber gleichzeit­ig ein Loch für den Zuckermais.

In einem Beet der Gemüse-Ackerdemie fallen viele schöne Sätze. Manche hochemotio­nal: „Boah, da ist ein Feuerkäfer!“Andere zutiefst philosophi­sch: „Kohlrabi mag ich besonders, weil er schaut so aus, als hätte er ganz viele Arme.“

Zug durch das Beet

Der letzte Programmpu­nkt: die Wege zwischen den Abschnitte­n plätten, ein Riesenspaß. Zins startet einen Zug wie bei einer Polonaise, die Kinder bilden die Wagons. Sie schlängeln sich durch das Beet wie die Südbahn über den Semmering. Zum Schluss räumen die Kinder alle Werkzeuge weg. Nur nicht den Rechen, den trägt Zins lieber selbst in den Geräteschu­ppen.

 ?? Foto: Acker e. V. / Katharina Kühnel ?? Zusätzlich zur Gemüse-Ackerdemie für Sechs- bis Zwölfjähri­ge läuft das Programm Acker-Racker in Kindergärt­en.
Foto: Acker e. V. / Katharina Kühnel Zusätzlich zur Gemüse-Ackerdemie für Sechs- bis Zwölfjähri­ge läuft das Programm Acker-Racker in Kindergärt­en.

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