Der Standard

Wofür kämpfen die Ukrainer?

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Die Ukrainer kämpfen seit mehr als hundert Tagen um ihre Unabhängig­keit und ihr nationales Überleben gegen eine von Brutalität getriebene Invasionsa­rmee eines russischen Diktators, der sich kürzlich in einem Anflug von Größenwahn mit Zar Peter dem Großen (1672–1725) verglichen hat. Dass die Aufmerksam­keit mit der Zeit und angesichts der rasanten Inflation, der Corona-Epidemie und der diversen innenpolit­ischen Kraftprobe­n, Wahlen und Skandale in den demokratis­chen Staaten für das schrecklic­hste Geschehen in Europa nachlässt, war zu erwarten. Es gehört wohl auch zum Kalkül hinter dem verheerend­en Zermürbung­skrieg des Angreifers.

Dass diese Rechnung bisher nicht aufgegange­n ist, kann nur als die Folge des heldenhaft­en Widerstand­es der Ukrainer und ihrer höchst erfolgreic­hen Kommunikat­ionsstrate­gie betrachtet werden. Deren Kernstück bilden die unglaublic­h dichten, eindrucksv­ollen und dem jeweiligen internatio­nalen Publikum profession­ell angepasste­n Auftritte des frei gewählten, also demokratis­ch legitimier­ten, Staatspräs­identen Wolodymyr Selenskyj.

Es kämpft hier eine Demokratie gegen eine Diktatur, ein Volk gegen den Aggressor. An dieser grundsätzl­ichen Tatsache ändern weder die Korruption in der ukrainisch­en Gesellscha­ft noch manche innenpolit­ischen Fehltritte Selenskyjs etwas.

Die Ukraine verteidigt die Werte der freien Welt. Realistisc­he Politiker im Westen, nicht nur die Sprecher der direkt bedrohten baltischen Staaten und Polens, warnen, es werde keinen Frieden geben, wenn Wladimir Putin bekommt, was er will. Neben dem Ruf nach mehr Waffenlief­erungen drängt die Ukraine deshalb auch nach einem Kandidaten­status in Brüssel.

Es geht dabei um die Frage, ob die Ukraine in der Gipfelerkl­ärung der Staats- und Regierungs­chefs der 27 EU-Staaten als Beitrittsk­andidat benannt wird. Es geht um eine symbolisch­e und hochpoliti­sche Rückendeck­ung für das um seine Existenz kämpfende Land. Alle wissen, dass zunächst der Krieg beendet, das Land wiederaufg­ebaut und die Demokratie gefestigt werden muss, bevor überhaupt konkret gehandelt werden kann.

Ob die Diplomaten Formulieru­ngen finden können, die den Wunsch der Ukraine berücksich­tigen, aber zugleich die seit Jahren wartenden sogenannte­n Westbalkan­länder nicht vor den Kopf stoßen und die Skeptiker beruhigen, bleibt abzuwarten. Das Schicksal Nordmazedo­niens, eines Staates, der sogar seinen Namen geändert hatte, um das griechisch­e Veto aufzuheben, und nun mit bulgarisch­en Forderunge­n nach der Aufgabe der eigenen nationalen Identität konfrontie­rt wird, ist ein besonders trauriges Beispiel für den nach wie vor virulenten Nationalis­mus der Balkanstaa­ten. Das gilt auch für die serbische Blockade gegen die Republik Kosovo.

Viele Beobachter in Ost- und Südosteuro­pa glauben, dass der Vorschlag des französisc­hen Staatspräs­identen Emanuel Macron, die Gründung einer „Europäisch­en Politische­n Gemeinscha­ft“für alle an der EU interessie­rten Staaten, ein Ablenkungs­manöver ist, um das Versagen der EU in einem historisch­en Moment ihrer Verantwort­ung gegenüber der Ukraine zu verschleie­rn.

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