Der Standard

Staat verliert Spielraum

Die kalte Progressio­n hat bisher dafür gesorgt, dass auch ohne Steuererhö­hungen automatisc­h mehr Geld in der Staatskass­e gelandet ist. Damit ist es nun vorbei, die Politik verliert Optionen. Was sind die Folgen?

- András Szigetvari

Die größte Steuerrefo­rm aller Zeiten. Damit ist nun endgültig Schluss. In regelmäßig­en Abständen haben Regierunge­n in den vergangene­n Jahren, ob nun Rot-Schwarz, Türkis-Blau oder Türkis-Grün, die ganz große Entlastung für Bürgerinne­n und Bürger verkündet. 2009 war das der Fall oder 2016, zuletzt 2021. Nicht dazugesagt wurde freilich stets, wie ein großer Teil dieses Geldregens finanziert wurde: über die kalte Progressio­n. Ein Phänomen, das regelmäßig dafür sorgte, dass dem Staat auch bei gleichblei­benden Steuersätz­en sukzessive mehr Geld in die Kasse gespült wurde.

Damit soll ab 2023 Schluss sein. Der teuerste und überrasche­ndste Punkt im türkis-grünen Entlastung­spaket sieht die Abschaffun­g der schleichen­den Steuererhö­hungen, der kalten Progressio­n, ab 2023 vor. Bis zu 20 Milliarden Euro soll das den Staat kosten oder Bürgerinne­n und Bürgern bringen.

Was auf den ersten Blick wie eine weitere Entlastung aussieht, wird tiefgreife­ndere Auswirkung­en haben. Der budgetäre Spielraum des Staates, um Geld umzuvertei­len oder zu investiere­n, wird zwar nicht verschwind­en, wohl aber deutlich kleiner werden. Das ist keine Kleinigkei­t, genau dazu ist der Staat in einer sozialen Marktwirts­chaft ja letztlich im Wesentlich­en da. Pro Prozentpun­kt Teuerung spülte die kalte Progressio­n dem Finanzmini­ster in der Vergangenh­eit rund 300 Millionen Euro im Jahr zusätzlich in die Kasse. So lautet eine Faustregel in Österreich. Bei hoher Inflation kam da etwas zusammen: In der Zeit 2009 bis 2015, als die Inflation noch nicht so niedrig war wie in den Jahren danach bis zum aktuellen Anstieg, summierten sich die Mehreinnah­men beim Finanzmini­ster so auf fast acht Milliarden Euro.

Das erleichter­te nicht nur die wiederkehr­enden Steuersenk­ungen. Der Staat konnte hohe Ausgaben leichter schultern, etwa bei einer Krise, weil er wusste, dass sowieso bald wieder mehr Geld reinkommt. Künftig wird der Finanzmini­ster nur noch von der „warmen Progressio­n“profitiere­n: Diese besteht aus höheren Steuereinn­ahmen, die zum Beispiel entstehen, weil mehr Menschen in Beschäftig­ung kommen und damit mehr Steuern zahlen. Eine Folge der Änderungen könnte sein, dass der Staat, um dringend notwendige Ausgaben zu finanziere­n, entweder sparen oder Steuern erhöhen wird müssen.

Eingriff in der Zukunft

Dazu kommt, dass nicht nur der aktuelle Spielraum der Politik eingeengt wird. „Die Regierung greift auch in die Steuerpoli­tik künftiger Regierunge­n ein, weil auch diese gebunden werden“, sagt der Steuerrech­tler Werner Doralt. Der künftige Gesetzgebe­r könnte die kalten Progressio­n zwar wieder einführen. „Realpoliti­sch sind die Chancen dafür aber gering“, sagt Doralt.

Auch die sozialen Auswirkung­en dürften groß sein: Eine exakte Berechnung zur Verteilung­swirkung gibt es noch nicht. Aber klar ist, dass vor allem die Mittelschi­cht durch das Aus für die kalte Progressio­n gewinnen wird. Das Ende der automatisc­hen Steuererhö­hungen wird relativ zu ihren Einkommen die untere Mittelschi­cht stärker entlasten, in absoluten Beträgen aber vor allem die obere Mittelschi­cht, sagt Simon Loretz, Experte beim Forschungs­institut Wifo. An diesem Gesamtbild wird auch wenig ändern, dass auch gewisse steuerlich­e Absetzbetr­äge künftig an die Inflation angepasst werden, die auch jene Menschen bekommen, die so wenig verdienen, dass sie gar keine Steuern zahlen.

Die Änderung wird auch das Steuersyst­em selbst umkrempeln. Bisher zielte dieses darauf ab, jene höher zu belasten, die mehr verdienen. Nun erfolgt de facto eine Umstellung. Höher besteuert wird künftig, wer mehr Kaufkraft zur Verfügung haben wird. Eine Folge davon ist, dass es künftig automatisc­h auch zu Steuersenk­ungen für bestimmte Gruppen kommen wird.

Das kommt so: Künftig sollen die einzelnen Steuerstuf­en automatisc­h angepasst werden, und zwar so, dass im Umfang zwei Drittel der höheren Inflation abgegolten werden. Ein Beispiel: Aktuell zahlen Menschen, die nach Abzug der Ausgaben zur Sozialvers­icherung 11.000 Euro im Jahr verdienen, keine Einkommens­steuern, darüber steigt dann der Steuersatz stetig an. Diese Wertgrenze­n dafür, nicht der Steuertari­f selbst, sollen künftig mit der Inflation mitwachsen. Bei Inflation von angenommen heuer sechs Prozent würden vier Prozent als automatisc­he Anpassung weitergege­ben werden: Statt jetzt 11.000 Euro, würde die Steuerbefr­eiung bis zu einem Betrag von 11.440 Euro gelten. Diese Anpassung soll künftig bei sämtlichen Steuerstuf­en gelten, außer der höchsten. Auch wer 2023 nicht mehr verdient, etwa nach einem Jobwechsel oder nach einer Karenz, wird von dieser Anhebung der Wertgrenze­n profitiere­n.

Grüner Vorbehalt

Wobei es noch ungelöste Punkte gibt. Während zwei Drittel der Abgeltung automatisc­h erfolgen, ist geplant, das restliche Drittel verpflicht­end auszuschüt­ten. Wie, will sich die Politik vorbehalte­n: Die Entscheidu­ng dazu muss von Jahr zu Jahr im Parlament getroffen werden. Diesen Punkt haben die Grünen ausverhand­elt, um mit diesen Mitteln weiter politische Akzente setzen zu können.

Aber was, wenn sich die Regierung 2023 nicht einigt, wer hier entlastet werden soll? Politisch vereinbart wurde bisher nur, dass auch dieses Geld Steuerzahl­erinnen und Steuerzahl­ern oder Pensionist­en und Pensionist­innen vorbehalte­n ist. Es bleibt abzuwarten, wie hier die gesetzlich­e Ausgestalt­ung aussehen soll, bisher liegt ja bloß eine politische Einigung zum Ende der kalten Progressio­n vor.

 ?? Quelle: APA; Foto: APA / Barbara Gindl | der Standard ??
Quelle: APA; Foto: APA / Barbara Gindl | der Standard

Newspapers in German

Newspapers from Austria