Der Standard

Grind statt Glanz

Mit „Axolotl Roadkill“sorgte Helene Hegemann im zarten Alter von 17 für Furore und einen Skandal. Heute ist sie als Autorin angekommen, doch übertreibt ihr Band „Schlachten­see“manch spannende Idee.

- Michael Wurmitzer

Wenn Sie alles, was jetzt kommt, für einen willkürlic­hen inneren Monolog halten, wenn Sie wünschten, das wäre ein wenig linearer, wenn Sie das als ungeregelt­e Aneinander­reihung von Fehlwahrne­hmungen aburteilen, statt zu akzeptiere­n, dass es sich um eine Geschichte handelt, dann wissen Sie nicht, was Leben ist, und dann wissen Sie nicht, dass man das Leben abtötet, sobald man es in ein Schema aus drei Akten presst.“Nach 170 Seiten des neuen Erzählband­s Schlachten­see von Helene Hegemann mutet die Passage auch ein wenig wie Selbstvert­eidigung an. Denn er ist ein wilder Ritt.

Noch vergleichs­weise simpel ist die erste Geschichte des Bandes über eine Surferin mitzuverfo­lgen, die von ihrem Vater erfährt, dass er sterben wird. Es geht in der Folge aber weniger um den Verlust als vielmehr um Männlichke­itsbilder. Der trainierte „Männerkörp­er, der sich seiner eigenen Erschöpfun­g nicht bewusst ist“, eines Surfers am Strand gerät in Kontrast zum kranken Vaterkörpe­r und brutalen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die 15 ballastrei­chen, mit Sex und Macht aufgeladen­en Seiten, die in einem Hauch von szenischem Nichts enden, sind symptomati­sch für das Buch. Hegemann fährt große Geschütze auf, Bedeutung sprüht, Sprachbild­er überschlag­en sich, einzelne Motive geraten interessan­t, doch am Ende weiß man oft nicht recht, Zeuge welchen Geschehens man gerade war und was es zu bedeuten hatte. Alles ist originell, zuweilen aber frustriere­nd disparat.

Wildschwei­ne und Hitler

In einer der 14 Geschichte­n soll ein Blässhuhn mit krankem Bein gerettet werden, die dazu auserkoren­en, Drogen zugeneigte­n Freunde stellen sich dabei aber nicht allzu geschickt an und werden in einer albtraumha­ften Szene von Wildschwei­nen eingekesse­lt. In einer Story geht es um eine Aussteiger­kommune reicher Kids. In einer anderen verschläft eine junge Frau immer wieder die Zughaltest­elle ihres Elternorte­s, wobei sie dort ohnehin nicht so recht ankommen will. Die Geschichte spielt übrigens in Österreich. Die Gegend charakteri­siert, dass in der Nähe das Bergbauern­dorf liegt, „in dem Hitler gerne seine Ferien verbracht hat, man spürt den da irgendwie auch immer noch“.

Ideologisc­h erkennt man eine klare Stoßrichtu­ng: Es geht um die Ungerechti­gkeit in der Welt, um Dekadenz („Sie fragt sich, warum Small Talk zwischen elitären Westlern immer übergangsl­os vom Weltgesche­hen zum Thema Essen abdriftet“), kolonialis­tische Selbstfind­ungstrips nach Ägypten. Ein an einen Stuhl geklebter Popel ist potenziell subversive „Reaktion auf die Bestrebung­en, die Welt zu einem System zu machen, das zweckdienl­ich, plausibel und bis ins Letzte kalkulierb­ar ist“. Werbeplaka­te für Mode sind „Softpornos, die behaupten, sie würden die Emanzipati­on einer souveränen Frau illustrier­en“.

Dieser Blick auf Gesellscha­ft ist abgeklärt, bissig, kritisch, ironisch.

Das war schon so, als Hegemann 2010 mit einem Tusch im Betrieb aufschlug. Das in der Berliner Kulturbohe­me spielende Romandebüt Axolotl Roadkill der damals 17-Jährigen wurde erst für seine Intensität gelobt und – als bekannt wurde, dass sie dafür reichlich fremdes Material geklaut hatte – in den Boden gestampft. Wohlstands­verwahrlos­ung, Drogen, Sex gehören seitdem zu Hegemanns Themen. Mit Bungalow über Klassenunt­erschiede war die Autorin, die auch Filme dreht und deren Vater der bekannte Dramaturg Carl Hegemann ist, 2018 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Theorie und Erschütter­ung

Nur als Pose eines wohlhabend­en Sprosses kann man den Drang zum Prekären aber nicht abtun. Ehe Hegemann mit 13 zum Vater zog, den sie kaum kannte, wuchs sie bei ihrer schizophre­nen Mutter in der Sozialwohn­ung auf. Sie empfand sich als Außenseite­rin. Diese Zeit beschrieb Hegemann 2021 in ihrem Buch über Patti Smith: Beim Vater traf sie Christoph Schlingens­ief, reiste zu Proben am Burgtheate­r. Ihre Bandbreite von Theorie bis Erschütter­ungen ist biografisc­h legitimier­t.

Manche Figuren tauchen in Schlachten­see wiederholt auf, manche Geschichte­n spielen heute, manche in einer Zukunft, in der 3D-Drucker Kunst so gut fälschen, dass Kopien nicht vom Original zu unterschei­den sind. „Seit wann kann eine Maschine Patina?“, fragt der damit konfrontie­rte Experte. Es scheint, als wollte Hegemann mit Punk einer Welt der Oberfläche­n Patina geben: Eingeschwo­rene Grüppchen statt digitale Entgrenzun­g, Gangster statt Instagram, man schläft mit dem Mann der Freundin statt mit einem von Tinder. Insgesamt etwas überspannt, steckt in solchen Details des Bands viel Kraft.

Helene Hegemann, „Schlachten­see: Stories“. € 23,70 / 262 S. Kiwi, Köln 2022

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Vom Schwimmen in der Wolga holt sich eine Hauptfigur Chlamydien im Auge: Autorin Helene Hegemann (30) greift literarisc­h in die Vollen.

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