Der Standard

Mit Marlene Freitas in Pandoras Box der Kuriosität­en

Starkes Solo „Idiota“bei den Wiener Festwochen

- Lisa Kammann aus Brüssel Die Reise nach Brüssel erfolgte auf Einladung der Wiener Festwochen.

Sämtliches Unheil, Schmerz, Krankheit und Tod brachte die berüchtigt­e Büchse der Pandora in die Welt, womit nach dem Goldenen Zeitalter aber auch die Fruchtbark­eit und das ständig neu erwachsend­e Leben auf der Erde Einzug hielt. Laut dem von Dichter Hesiod erstmals festgehalt­enen antiken Mythos befand sich in der Büchse außerdem alle Hoffnung. Was aus dieser geworden ist, ob sie jemals in die Welt entlassen oder aber durch ihren Verbleib in der Box sicher bewahrt wurde, bleibt offen.

Die aus Kap Verde stammende Choreograf­in Marlene Monteiro Freitas begibt sich in einem in Brüssel uraufgefüh­rten ausdruckss­tarken Solo auf die Suche nach der Hoffnung – und zwar direkt in besagter Büchse. Idiota ist ab 15. Juni im Mak bei den Wiener Festwochen zu sehen, wo Freitas 2023 eine Oper inszeniere­n wird.

Kuriose Requisiten

Der Titel des Stücks scheint auf das Spannungsf­eld hinzuweise­n, in dem sich die Protagonis­tin bewegt. Als „idiotes“wurde in der Antike ein einfacher Laie bezeichnet, der sich für keinerlei politische oder gesellscha­ftliche Belange interessie­rt, lediglich über Privates nachdenkt. Auch auf Freitas’ Idiota scheint die Geschichte menschlich­er Zivilisati­on mit all ihren Auswüchsen ungewollt hereinzubr­echen.

Die transparen­te kleine Box, in der Freitas agiert, fungiert dabei als eine Art Membran, die sich durch verschiede­ne Öffnungen – Spritzen, Trichter, gar eine Hintertür – durchlässi­g zeigt. Die Künstlerin spielt mit diesem Innen und Außen, richtet manchmal ihren Blick weit in die Ferne, während sie in der Box allerhand kuriose Requisiten wie eine Schaufel und Sand zur Hand hat.

Ekstatisch­e Tänze

Die Geschichte der Menschheit löst in der Protagonis­tin Verzweiflu­ng und Grauen aus, lässt sie jedoch auch Lebenslust erfahren. In Klang und Musik drückt sich das Unheil etwa in bedrohlich­em Hundegebel­l aus. In der bekannten Händel-Arie Lascia ch’io pianga zeigt sich der Schmerz des Menschen, die Tragödie, die die Kunst als stärkste Emotionen zum Ausdruck bringt – und damit auch das Schöne dieser Welt hervorbrin­gt. Auf der anderen Seite feiert Freitas das Leben in ekstatisch­en Tänzen.

Das Repertoire von Freitas’ Performanc­e ist breit und überschrei­tet sämtliche Grenzen: Clowneskes und Pantomime, befremdlic­he Grimassen und militärisc­he Starrheit, stumme Schreie der Verzweiflu­ng und grotesker Witz – die Tänzerin spielt in diesem spannenden und rätselbeha­fteten Solo ihre große Vielseitig­keit aus. Und wer weiß, womöglich steckt die Hoffnung ja in jedem von uns selbst („idios“)!

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