Der Standard

„Ich mache mir Sorgen um die Demokratie“

Digitale Medien verändern das Leseverhal­ten enorm. Die Linguistin Naomi Baron erforscht die individuel­len und gesellscha­ftlichen Folgen dieses Wandels.

- INTERVIEW: Marlene Erhart

Eigenen Angaben zufolge stapeln sich bei Naomi Baron zu Hause „mindestens 20.000 Bücher“. Kein Wunder, denn der Forschungs­gegenstand der Professori­n Emerita für Linguistik der American University, Washington, D.C., ist das Lesen. Im Gespräch mit dem STANDARD erzählt die Leseforsch­erin von Verständni­s und Konzentrat­ion, sozialen Ängsten und den Konsequenz­en, die Demokratie­n und Gesellscha­ften drohen, wenn der Stellenwer­t des Lesens verlorenge­ht.

STANDARD: Lesen Sie selbst digital oder auf Papier?

Baron: Wenn ich zum Vergnügen lese, ziehe ich gedruckte Bücher vor. Ich habe versucht, Romane auf dem Kindle meines Mannes zu lesen, aber das funktionie­rt für mich einfach nicht. Natürlich lese ich viele Dinge digital, vor allem, wenn das bequemer ist. Wenn ich etwa zu Hause arbeite, eine Pause machen möchte, aber keine Zeit für eine gedruckte Zeitung habe, lese ich die Nachrichte­n auf dem Handy. Wenn es mir angebracht erscheint, aus Notwendigk­eit oder Bequemlich­keit digital zu lesen, fühle ich mich dabei sehr wohl. Aber wenn ich wirklich tiefer in einen Text eintauchen will, ob für die Arbeit oder zum Vergnügen, möchte ich ihn in gedruckter Form lesen.

STANDARD: Was ist der Hauptunter­schied zwischen dem Lesen auf Papier und dem Lesen auf dem Bildschirm?

Baron: Die Antwort auf diese Frage ist äußerst komplex, obwohl viele Forschende dazu neigen, sie einfach klingen zu lassen. Die jüngsten Metaanalys­en kommen alle zu dem Schluss, dass digitales Lesen zu einem schlechter­en Leseverstä­ndnis führt als gedrucktes Lesen. Aber man muss genau hinsehen, was das bedeutet, denn das Design dieser Studien weist oft Einschränk­ungen auf. Erstens werden die Untersuchu­ngen in der Regel mit Tests zum Leseverstä­ndnis und nicht mit anderen Messungen durchgefüh­rt. Zweitens verwenden die meisten Studien Leseabschn­itte, die nicht besonders lang sind, vielleicht etwa 500 bis 600 Wörter. Drittens wurden fast alle Studien mit Informatio­nstexten durchgefüh­rt, nicht mit Erzählunge­n oder literarisc­hen Texten. Und schließlic­h waren bis vor ein paar Jahren die meisten Studien nicht sehr anspruchsv­oll in Bezug auf die gestellten Fragen, sondern blieben eher an der Oberfläche. Die Bestimmung des Unterschie­ds zwischen den verschiede­nen Lesemedien ist also komplizier­t, und in gewissem Maße hängt die Antwort von der Art der durchgefüh­rten Bewertung ab.

STANDARD: Weiß man, ob es für das Erinnern von Inhalten einen Unterschie­d macht, ob digital oder gedruckt gelesen wird?

Baron: Ich kann Ihnen sagen, was wir wissen und was wir glauben zu wissen. In den verschiede­nen bisher durchgefüh­rten Studien wird das Verständni­s fast immer unmittelba­r nach dem Lesen getestet. Wie aber sieht die Situation nach einem Jahr aus? Dazu haben wir leider keine Daten. Was uns zur Verfügung steht, sind Ergebnisse aus Untersuchu­ngen, die ich mit Universitä­tsstudente­n in fünf Ländern durchgefüh­rt habe. Die Teilnehmen­den wurden zu ihrer Konzentrat­ionsfähigk­eit beim Lesen auf verschiede­nen Plattforme­n befragt. Die Ergebnisse waren eindeutig: In Deutschlan­d sagten 94 Prozent der Befragten, sich am besten konzentrie­ren zu können, wenn sie ein gedrucktes Buch lesen, in den USA waren es 92 Prozent. Geht es darum, sich auf das Gelesene zu fokussiere­n – was vermutlich zum Gedächtnis und zum Erinnern beiträgt –, sagten die Befragten mit überwältig­ender Mehrheit, den Fokus besser behalten zu können, wenn sie Gedrucktes lesen.

STANDARD: Was schätzen Menschen ansonsten an gedruckten Lesestücke­n?

Baron: Drei Kollegen und ich haben an zwei internatio­nalen Schulen in Norwegen und den Niederland­en Untersuchu­ngen mit Schülern der Sekundarst­ufe durchgefüh­rt. Wir haben gefragt, was ihnen am besten und was am wenigsten gefällt, wenn sie gedruckte Bücher lesen. Viele Schüler sagten, dass sie sich besser an das erinnern, was sie in gedruckter Form lesen. Die Frage ist nun: Warum ist das so? Ich denke, die Antwort hat viel mit der physischen Beschaffen­heit von Büchern zu tun.

STANDARD: Also mit Optik und Haptik?

Baron: Digitale Bücher sehen alle ziemlich gleich aus. Aber bei gedruckten Büchern erinnert man sich daran, wie groß das Buch war, wie die Titelschri­ft aussah. Man erinnert sich an die Beschaffen­heit des Papiers. Was mich anfangs überrascht­e, war die Zahl der jungen Leute, die sagten: „Das, was ich am meisten an gedruckten Büchern mag, ist der Geruch des Buches.“Das heißt, sie sind der Meinung, dass die Sinne ein Teil des Lesens sind. Oft erinnern wir uns an etwas nicht aufgrund der verwendete­n Sprache, sondern aufgrund der Plattform, auf der wir es gelesen haben.

STANDARD: Sind Bücher also doch kein Auslaufmod­ell, wie oft proklamier­t und befürchtet?

Baron: Ich habe das Gefühl, dass Bücher nicht verschwind­en werden. In den USA können Sie sich die monatliche­n und jährlichen Verkaufsza­hlen ansehen, die von der Associatio­n of American Publishers zusammenge­stellt werden. Im ersten Jahr der Pandemie sind die Verkäufe gedruckter Werke zurückgega­ngen, während die digitalen Ausgaben gestiegen sind. Das ist angesichts der verschiede­nen Formen der Lockdowns keine Überraschu­ng. Doch seit etwa einem Jahr steigen die Verkaufsza­hlen für gedruckte Werke wieder an, während die digitalen Ausgaben zurückgehe­n. Das zeigt mir, dass die Menschen mit ihrem Geldbeutel abstimmen und dass viele Leser immer noch Printmedie­n bevorzugen. Erfreulich ist auch, dass es immer noch viele unabhängig­e Buchhandlu­ngen gibt, darunter auch solche, die neu eröffnet werden. Die Menschen kaufen weiterhin gedruckte Bücher, jetzt auch wieder persönlich. Ich habe also die Hoffnung auf gedruckte Bücher noch nicht aufgegeben. Es ist eine Technologi­e, die funktionie­rt. Und wenn etwas funktionie­rt, warum sollte man es dann abschaffen?

STANDARD: Kann es sein, dass in unserer schnellleb­igen Welt manchmal einfach die Zeit fehlt, um zum Vergnügen zu lesen?

Baron: Ältere Jugendlich­e und Erwachsene sagen oft: „Ich habe zu viel zu tun, um zu lesen.“In meiner Umfrage sagten viele Schüler der Sekundarst­ufe, gerne mehr lesen zu wollen, aber keine Zeit zu haben. Es ist verständli­ch, dass sie mit dem Eintritt ins Teenageral­ter zunehmend mit Hausaufgab­en und schulische­n Aktivitäte­n beschäftig­t sind. In den USA kann das Engagement in schulische­n Vereinen, im Sport und der Freiwillig­enarbeit ein wichtiges Mittel sein, um die Chancen für das College der Wahl zu verbessern. Es ist eine traurige Geschichte. Aber bis zu einem gewissen Grad entscheide­n die Menschen, was ihre Prioritäte­n sind. Ich merke, dass sich immer mehr Menschen, vor allem Jugendlich­e und junge Erwachsene, dazu getrieben fühlen, mehr Zeit als gewünscht mit Veranstalt­ungen oder in soziale Medien zu investiere­n. Sie sagen etwa: „Ich muss zu dieser Veranstalt­ung, muss konstant meinen Facebook-Feed prüfen, sonst werde ich nicht zu Treffen eingeladen. Ich muss ständig darauf achten, was auf meinem Telefon oder online passiert, um schnell reagieren zu können. Ich habe keine andere Wahl.“Es gibt eine Menge sozialer Ängste.

STANDARD: Provokant gefragt: Wäre es so schlimm, wenn Menschen nicht mehr oder nur mehr sehr wenig lesen würden?

Baron: Es gibt unzählige Menschen, die nie zum Vergnügen lesen. Wenn ich mir dieses Phänomen aus amerikanis­cher Sicht ansehe, bin ich sehr beunruhigt. Mein Land steht vor enormen Herausford­erungen, eine der dringendst­en ist die Waffengewa­lt. Seit Jahren gelingt es uns nicht, den Kongress dazu zu bringen, ein Gesetz zu verabschie­den, das universell­e Hintergrun­dkontrolle­n für den Kauf einer Waffe garantiert. Ein 18-Jähriger kann legal ein AR15-Sturmgeweh­r kaufen und eine Massenschi­eßerei beginnen. Was ist das für ein Land? Oder bedenken Sie die Tatsache, dass die große Mehrheit der Republikan­er, selbst jene mit Hochschula­bschluss, tief in ihrem Herzen immer noch glauben, dass Trump die Präsidents­chaftswahl­en 2020 nicht verloren hat.

STANDARD: Wie erklären Sie sich das?

„Was junge Leute besonders schätzen, ist der Geruch eines Buchs.“Naomi Baron

Baron: Es handelt sich um ein Bildungsve­rsagen, das oft mit mangelnder Lektüre verbunden ist. Ein Teil dieses Versagens zeigt sich darin, dass die Leute sich nicht fragen, ob es eine Alternativ­e zu ihrem Standpunkt gibt und was die andere Seite zu einem bestimmten Thema sagt. Heutzutage sollte es ein Leichtes sein, die Argumente der Gegenseite durch eine Vielzahl von Medien, einschließ­lich des geschriebe­nen Wortes, herauszufi­nden. Dennoch gibt es einen großen Teil der Bevölkerun­g, der das nicht tut. Deshalb mache ich mir wirklich Sorgen um die Demokratie. Ist es also relevant, wenn Menschen nicht lesen? Ja, denn es gibt viele Beispiele dafür, dass die Demokratie gefährdet war, weil sich die Menschen nicht die Mühe machten, sich über Ereignisse und Vorgänge zu informiere­n.

STANDARD: Emanzipier­t das Lesen also?

Baron: Das ist eines der Dinge, die lesen bewirkt, denn man kann es losgelöst von anderen tun und einen eigenen Standpunkt bilden. Sie könnten etwa in einer Gemeinscha­ft leben, in der alle Donald Trump für den leibhaftig­en Messias halten. Aber wenn Sie lesen, stoßen Sie vielleicht auf andere Perspektiv­en, die Sie zum Nachdenken anregen und Ihnen helfen, Ihre eigene Meinung zu bilden.

NAOMI BARON (75) kam auf Einladung des FWFProjekt­s Books on Screen und des DFG-Netzwerks Forschungs­feld Lesen zu einem Vortrag nach Wien.

 ?? ?? Die Linguistin Naomi Baron befasst sich mit digitalem Lesen und der Buch- und Lesekultur im Kontext der modernen Medienwelt.
Die Linguistin Naomi Baron befasst sich mit digitalem Lesen und der Buch- und Lesekultur im Kontext der modernen Medienwelt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria