Vier Staats- und Regierungschefs in Kiew
Die Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Rumäniens besuchten gemeinsam die Ukraine. Am Ende gab es ein Plädoyer für deren EU-Kandidatenstatus.
Der ukrainische Minister für Gemeinden und territoriale Entwicklungen, Oleksij Tschernyschow, informiert Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Premierminister Mario Draghi, Deutschlands Kanzler Olaf Scholz (von links) und den rumänischen Präsidenten
Klaus Iohannis (hinter Macron) am Donnerstag über das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Nach einem Treffen mit dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sprachen sich Deutschland und Frankreich für einen EUKandidatenstatus aus.
Wieder war es eine Reise mit dem Zug, wieder blieb der genaue Ablauf im Vorfeld aus Sicherheitsgründen geheim: Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der italienische Premierminister Mario Draghi fuhren in der Nacht auf Donnerstag gemeinsam nach Kiew. Dort stieß dann noch der rumänische Staatschef Klaus Iohannis dazu und machte die seit Kriegsausbruch wohl gewichtigste internationale Besuchsdelegation in der ukrainischen Hauptstadt komplett.
Am Nachmittag wurden die vier vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu Gesprächen empfangen. Im Anschluss plädierten die Gäste für einen raschen EUKandidatenstatus für die Ukraine. Bei einer Pressekonferenz erklärte Scholz zudem, Berlin unterstütze auch die Republik Moldau dabei, EU-Beitrittskandidat zu werden.
Bereits im Vorfeld war der Besuch von zahlreichen Solidaritätsadressen Richtung Kiew begleitet gewesen. Ziel der Visite sei es, Selenskyj „ein klares Signal der Solidarität Europas zu übermitteln“, twitterte etwa der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Macron sprach bei der Ankunft von einem „wichtigen Moment“und einer „Botschaft der Einigkeit, die wir den Ukrainern senden“.
Ruf nach mehr Waffen
Zuletzt hatte es allerdings immer wieder Kritik an Deutschland und Frankreich gegeben – gerade auch aus Kiew selbst. Ukrainische Regierungsmitglieder hatten moniert, dass Waffenlieferungen zu langsam erfolgen würden und man dort den eigenen Wohlstand über die Freiheit und Sicherheit der Ukraine stelle.
Macron wies dies – auch mit dem Hinweis auf finanzielle Unterstützung für Kiew – zurück: Frankreich und Europa hätten „der Ukraine und ihrer Bevölkerung von Anfang an zur Seite gestanden“. Scholz weist seinerseits darauf hin, dass Deutschland in Abstimmung mit westlichen Partnern Waffen bereitstelle.
Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums in Berlin hat Deutschland zwischen dem Beginn des rusDie sischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar und dem 1. Juni die Lieferung von Rüstungsgütern im Wert von über 350 Millionen Euro genehmigt.
Zudem erklärte am Mittwoch Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht vor dem aktuellen Treffen mit ihren Amtskolleginnen und -kollegen der Nato-Staaten, dass die drei von Berlin zugesagten Mehrfachraketenwerfer bereits im Juli oder August geliefert werden könnten.
Vor dem Gespräch mit Selenskyj besuchten die Staats- und Regierungschefs den Kiewer Vorort Irpin, um sich die Zerstörungen dort zeigen zu lassen. Dass es in der Gegend keine militärischen Strukturen gegeben habe, sage „sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist“, sagte Scholz. Macron bezeichnete Irpin als „heroische Stadt, gezeichnet von den Stigmata der Barbarei“. Rumäniens Präsident Iohannis forderte einmal mehr, russische Gräueltaten vor ein internationales Strafgericht zu bringen.
Kiew-Reise des hochkarätigen Quartetts erfolgte nur einen Tag vor einer wichtigen Weichenstellung durch die Europäische Kommission in Brüssel. Diese wollte am Freitag eine Empfehlung abgeben, wie man auf die Bewerbung der Ukraine für eine EU-Mitgliedschaft reagieren solle. Nächste Woche soll dann auf einem EU-Gipfel über einen etwaigen Kandidatenstatus für Kiew entschieden werden. Die entsprechenden Verhandlungen während der nächsten Tage werden nun unter dem Eindruck der Fürsprache stehen, die in Kiew zum Ausdruck gebracht wurde.
Moskau warnt
Russland warnte unterdessen einmal mehr vor weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie seien „absolut nutzlos“und würden dem Land nur „weiter schaden“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag. Die EU-Politiker sollten sich nicht nur darauf konzentrieren, „die Ukraine mit Waffen vollzupumpen“.
Moskau/Berlin/Wien – Der russische Energiekonzern Gazprom hat wie angekündigt in der Nacht zum Donnerstag seine Gaslieferungen nach Deutschland durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 weiter reduziert. Wie aus im Internet veröffentlichten Transportdaten des Pipelinebetreibers Nord Stream hervorgeht, sank die Gasmenge von Mittwochabend ab. In der Früh erreichte die Liefermenge – hochgerechnet auf 24 Stunden – in etwa die von Gazprom angekündigten 40 Prozent der technischen Kapazität.
Auch Österreich ist mit reduzierten Gaslieferungen aus Russland konfrontiert. Ein Sprecher des heimischen Öl- und Gaskonzerns OMV sagte, der russische Lieferant Gazprom habe über eine Reduzierung informiert. „Wir werden diese Mengen, sofern aufgrund des geringeren Gasbedarfs überhaupt notwendig, durch Speichermengen und Mengen vom Spotmarkt ersetzen. Die Versorgung unserer Kunden ist derzeit sichergestellt.“Auch der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck nannte die Situation zwar ernst, sie gefährde aber nicht die Versorgungssicherheit in Deutschland.
Der russische Energieriese Gazprom hatte am Mittwoch angekündigt, die Gasliefermengen durch Nord Stream erneut zu reduzieren. Von der Nacht zum Donnerstag an sollten täglich nur noch maximal 67 Millionen Kubikmeter durch die Leitung gepumpt werden. Erneut begründete der Staatskonzern den Schritt mit Verzögerungen bei Reparaturarbeiten. Bereits am Dienstag hatte Gazprom die Reduktion des Tagesvolumens von 167 Millionen um rund 40 Prozent auf 100 Mio. Kubikmeter Gas pro Tag verkündet.
Warnsignal der Russen
Dass Gazprom seine Lieferungen durch Nord Stream 1 nun auf etwa 40 Prozent senkt, ist aus Sicht des Präsidenten der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, ein Warnsignal. Wenn Gazprom über Wochen nur 40 Prozent durch Nord Stream 1 liefere, bekomme Deutschland ein Problem, sagte Müller: „Das würde unsere Situation erheblich verschlechtern. Über den Sommer könnten wir das vielleicht aushalten, denn die Heizsaison ist ja vorbei. Allerdings müssen wir jetzt zwingend die Speicher füllen, um den Winter zu überstehen – auch mit russischem Gas.“Polen, Bulgarien, Finnland, die Niederlande und Dänemark erhalten bereits kein Gas mehr aus Russland.