Der Standard

Den Genen auf der Spur

- Jakob Pallinger

In Großbritan­nien soll bald das Genom von hunderttau­senden Babys auf potenziell­e Erbkrankhe­iten untersucht werden. Auch in anderen Ländern laufen ähnliche Genomanaly­sen. Man verspricht sich davon neue Entdeckung­en und Therapien. Doch die Untersuchu­ngen werfen viele ethische Fragen auf.

Kaum ist ein Baby auf der Welt, muss es schon zu den ersten Untersuchu­ngen. Es wird gewogen, seine Körperläng­e wird gemessen, sein Gaumen abgetastet, seine Atmung kontrollie­rt und sein Blut untersucht. Wenige Tage später folgen dann weitere Untersuchu­ngen. Sie sollen helfen, möglichst schnell auf gesundheit­liche Probleme des Babys zu reagieren.

Geht es nach einigen Forschende­n, sind diese Untersuchu­ngen nicht genug. Sie wollen künftig kurz nach der Geburt nicht nur herausfind­en, worunter ein Baby akut leidet, sondern auch, worunter es in möglicherw­eise zehn, zwanzig, dreißig oder gar fünfzig Jahren leiden könnte. Dafür wollen sie das gesamte Genom eines Neugeboren­en auf mögliche genetische Erkrankung­en und Risiken hin analysiere­n, um frühzeitig gegen diese vorzugehen und damit Leben zu retten. Doch Kritiker warnen vor der Gefahr, dass die gewonnenen DNADaten in die falschen Hände gelangen könnten. Wie sinnvoll und sicher ist die sogenannte Genomseque­nzierung bei Neugeboren­en?

Tausende Erbkrankhe­iten

Die Liste an Erbkrankhe­iten ist jedenfalls lang. Weltweit sind mehr als 6000 bekannt, und jedes Jahr werden neue entdeckt. Zumindest 600 genetische Erkrankung­en sind behandelba­r. Laut Studien wird bei rund fünf Prozent aller Menschen zwischen null und 25 Jahren eine genetische Störung festgestel­lt. Auch wenn viele der Erkrankung­en selten sind, das heißt, meist weniger als eine von 2000 Personen davon betroffen ist, können die Folgen schwerwieg­end sein: Betroffene können unter gesundheit­lichen Problemen leiden, die Behandlung kann schwierig sein, wenn es insgesamt nur wenige Patienten gibt und die Symptome erst spät erkannt werden.

Seit Jahren arbeiten Forschende deshalb daran, das Erbgut von Menschen schon möglichst früh auf mögliche Defekte zu untersuche­n. Eines der größten Projekte zur sogenannte­n Genomseque­nzierung von Neugeboren­en findet aktuell in Großbritan­nien statt. Dort will das öffentlich­e Unternehme­n Genomics England bald das gesamte Genom von 200.000 Babys sequenzier­en und auf mögliche Erkrankung­srisiken hin analysiere­n.

Die Forschende­n verspreche­n sich davon, Erbkrankhe­iten früher zu erkennen und besser behandeln zu können. Zudem könnte das Erbgut verwahrt und zu einem späteren Zeitpunkt erneut analysiert werden, um möglicherw­eise neue Defekte oder Therapien zu entdecken oder später auftretend­en Symptomen einer untersucht­en Person schneller auf den Grund zu gehen, heißt es von den Wissenscha­ftern von Genomics England.

Auch in Harvard arbeiten Forschende daran, das gesamte Genom von Neugeboren­en zu analysiere­n. Das Projekt Baby Seq erhielt erst kürzlich Förderunge­n, um das Genom von tausend Babys zu sequenzier­en. In der EU soll das Projekt Screen 4 Care in den nächsten fünf Jahren Genomanaly­sen von Neugeboren­en durchführe­n, um seltene Erberkrank­ungen schneller zu erkennen. Und auch in anderen Ländern wie etwa China und Australien gibt es ähnliche Projekte.

Aussagekra­ft begrenzt

Ganz neu sind die Screeningp­rogramme nicht. Schon jetzt werden Neugeboren­e in Österreich im Rahmen eines Screenings auf angeborene Stoffwechs­elerkranku­ngen untersucht. Dadurch soll eine Behandlung möglich sein, bevor der Defekt einen Schaden verursacht. Im Vergleich dazu soll eine Genomseque­nzierung allerdings Aufschluss über potenziell hunderte seltene Erbkrankhe­iten geben, die nicht nur im Kindesalte­r, sondern auch später im Leben auftreten können. Genomics England will etwa mehrere Hundert Genvariant­en von Neugeboren­en auf Risiken untersuche­n, Baby Seq über tausend.

Doch wie viel verraten solche Tests über unser Leben und unsere spätere Gesundheit? „Momentan ist die Aussagekra­ft noch sehr eingeschrä­nkt“, sagt Stefan Mundlos, Direktor des Instituts für medizinisc­he Genetik und Humangenet­ik der Charité Universitä­tsmedizin Berlin, im Gespräch mit dem STANDARD.

Zunächst müsse klar sein, dass man aus dem Genom eines Menschen weder auf dessen Eigenschaf­ten noch auf viele andere bekannte Erkrankung­en schließen könne.

98 Prozent des menschlich­en Genoms lassen sich zudem noch gar nicht richtig interpreti­eren. Auch unter den restlichen Prozent gebe es viele Genvariant­en, die schwierig zu interpreti­eren seien, sagt Mundlos. Bei vielen verbreitet­en Krankheite­n wie etwa Alzheimer seien etwa lediglich ein Prozent der Erkrankung­en durch genetische Mutationen vorhersagb­ar, bei Brustkrebs rund fünf Prozent. Lediglich für einige seltene, schwere Erberkrank­ungen sei die Aussagekra­ft durch die Genomseque­nzierung größer. Meist kann aber nicht vorhergesa­gt werden, wann und ob eine Krankheit ausbricht, sondern nur, ob es ein erhöhtes Risiko gibt, so Mundlos.

Wunsch nach Gewissheit

Umfragen in Großbritan­nien haben ergeben, dass viele Eltern gar nicht genau wissen wollen, was in der DNA ihres Kindes steckt. Wenn überhaupt, wollen viele nur von möglichen im Kindesalte­r erfahren. Wenn das Kind älter ist, soll es selbst entscheide­n können, ob es von möglichen Erkrankung­srisiken in späteren Jahren erfahren möchte. Zudem wollen Eltern Gewissheit­en und keine Wahrschein­lichkeiten, ob und wann eine genetische Erkrankung bei ihrem Kind auftreten wird – was ihnen die Wissenscha­ft derzeit kaum bieten kann.

Laut Mundlos können Informatio­nen über ein höheres Risiko für eine genetische Erkrankung aber durchaus hilfreich sein: Menschen können dann etwa Vorsorgeun­tersuchung­en oder operative Eingriffe machen, um das Risiko einer Erkrankung zu minimieren.

Trotzdem gebe es bei der Genomseque­nzierung von Neugeboren­en eine Reihe von ethischen Schwierigk­eiten: Babys können nicht entscheide­n, ob die Tests an ihnen durchgefüh­rt werden sollen. Das sei vor allem bei Vorhersage­n problemati­sch, die sich auf mögliche Erkrankung­en im späteren Leben des Kindes beziehen. Die Informatio­nen könnten möglicherw­eise das Recht des Kindes auf ein selbstbest­immtes Leben einschränk­en.

Zudem könnten die Daten falsch interpreti­ert werden und Verunsiche­rung hervorrufe­n: Bei einem gesunden Kind könnte eine Erbkrankhe­it vorhergesa­gt werden, die eigentlich gar nicht vorhanden ist, wodurch es unnötig in Untersuchu­ngen und Behandlung­en geschickt würde. Und wie damit umgehen, wenn herauskomm­t, dass das Kind an einer seltenen genetische­n Erkrankung leidet, es aber keine Behandlung dafür gibt?

Sensible Daten

Hinzu kommt, dass die Sequenzier­ung des gesamten Genoms eines Neugeboren­en eine Fülle an Daten erzeugt, die nicht nur das Kind, sondern die gesamte Familie betreffen, sagt Mundlos. Diese sensiblen Daten müssen über das ganze Leben sicher gespeicher­t werden. Kritiker befürchten bereits, dass diese Daten möglicherw­eise in die Hände von Versicheru­ngen oder autoritäre­n Regierunge­n gelangen könnten, wodurch bestimmte Menschen benachteil­igt werden könnten.

Laut Gentechnik­gesetz in Österreich darf eine Genanalyse am Menschen grundsätzl­ich nur nach dessen Einwilligu­ng durchgefüh­rt werden. Wenn es etwa um die Genanalyse vor der Geburt geht, müssen Schwangere zuerst eine ausführlic­he Beratung erhalten, bevor sie dieser zustimmen können. Ein automatisc­hes Genomscree­ning bei allen Neugeboren­en scheint hierzuland­e noch in weiter Ferne.

Noch ist die Genomseque­nzierung aufwendig und teuer, sagt Mundlos. Man müsste die genetische­n Daten wohl alle zwei Jahre neu auswerten, um auf neue Erkenntnis­se zu stoßen. „Die Interpreta­tion von heute kann morgen schon wieder veraltet sein.“

In Zukunft wird die Technologi­e aber immer einfacher und die Verarbeitu­ng immer schneller, sagt Mundlos. Vielleicht wird es einige Menschen dann tatsächlic­h vor Erbkrankhe­iten bewahren. „Aber die Frage, wie weit man in die Selbstents­cheidung eines Individuum­s eingreifen darf, bleibt auch dann noch bestehen.“

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