Gedichte in den Formen von Urnen und Sklavenschiffen
US-Lyrikerin Amanda Gorman löst mit ihrem Lyrikband „Was wir mit uns tragen“ihre Rolle als Generationensprecherin ein
Lamentieren ist leicht, / härter, zu hoffen“: Lapidarer lässt sich ein Stück Gedankenlyrik kaum beginnen. Verse wie diese erregen berechtigten Argwohn, sie tragen die Last der Aussage ohne ästhetisches Risiko. Und doch muss man die Gedichte der US-Amerikanerin Amanda Gorman (24) im Original lesen: „It is easy to harp, / Harder to hope“. Man tut den beiden Übersetzerinnen des Bandes Call Us What We Carry („Was wir mit uns tragen“), Marion Kraft und Daniela Seel, kein Unrecht, wenn man die klangliche Dichte der Vorlage ihrer bemüht schlichten Übertragung vorzieht.
A Star was born: Als Amanda Gorman zur Inaugurationsfeier für US-Präsident Joe Biden ihr Langgedicht The Hill We Climb vortrug, schien sich eine Wunde zu schließen. Gorman trug ihre Hoffnung auf ein wiedervereintes Amerika mit wohldosiertem Pathos vor. Eine Person of Color, erlesen gekleidet, unerschütterlich eloquent, meditierte im Angesicht der neu vereidigten Macht über die Lasten des „nation building“. Die Zeit von Fake News, von Trumps rigoroser Zersetzung der Wirklichkeit durch Lügenphrasen, schien vorderhand erledigt. Poesie glich einem wiedergewonnenen Verständigungsmedium, geeignet, die Leiden der Afroamerikanerinnen angemessen zu artikulieren. Gormans Verse klangen erfrischend, dabei unüberhörbar geschult am Sound der Gründungsväter. „Denn Licht ist immer, / wenn wir es nur in uns zu finden wagen ...“
Viele Kommentatoren widmeten dem gelben Mantel, den Gorman am 20. Jänner 2021 trug, die meiste Aufmerksamkeit. Die Autorin wurde von Michelle Obama interviewt und unterschrieb einen Vertrag bei einer Model-Agentur. Da war die Tinte einer Vielzahl von Gedichten noch gar nicht trocken. Die Kalamitäten rund um die Frage, wer überhaupt berechtigt ist, die Lyrik einer afroamerikanischen Autorin zu übertragen, haben sich indes verflüchtigt.
Der zweisprachige Gedichtband gleicht einem Meteoriten: Er erfüllt die Bedingungen, die man an ein Kompendium richtet. Das Buch steckt voller visueller Poesie. In Säulen und grafischen Gedichten drückt Gorman Fragen aus: solche nach der Herkunft, aber auch diejenigen nach einer Ankunft in einer von den Schäbigkeiten der Segregation gereinigten Welt. Der Zauber ihrer Poesie, in der die Begriffe die Bilder an Kraft bei weitem überwiegen, ist assonanter Natur. Es sind Klangähnlichkeiten, die die Weitergabe von überwiegend schmerzlichen Erfahrungen gewährleisten, denn: „Auch das peitschengleiche Echo Jim Crows hallt durch Schwarze Körper, lange vor der Geburt“.
Beliebige Gefäße
Gormans Manier, freie Verse in beliebige „Gefäße“umzufüllen, sie in „Urnen“zu gießen oder sie in die Umrisslinien von „Schiffen“zu pferchen, geht häufig genug auf Kosten ihres Gehalts. Trotzdem taucht man meist geläutert und merkwürdig gelöst aus der Lektüre dieser Litaneien
empor. Man konstatiert die dialektischen Tücken des Wir, das Amanda Gorman unausgesetzt benützt: Indem sie die „Minderheit“derjenigen im Personalpronomen mitnimmt, die, als Opfer von Ausschluss und Gewalt, ihrer Wiederaufnahme in die offizielle Erzählung harren.
Für das „Land of the Free“könnte die öffentliche Rolle, die Amanda Gorman eben erst eingenommen hat, noch von entscheidender Wichtigkeit sein. Vorliegendes Buch hilft mit beim Verständnis.
Amanda Gorman, „Call Us What We Carry / Was wir mit uns tragen“. Gedichte, zweisprachige Ausgabe. Übers.: Marion Kraft, Daniela Seel. € 28,– / 432 S. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022