Der Standard

Erfolglose Mahnungen, säumige Politik

Die Insassenza­hlen explodiere­n, geeignete Therapiepl­ätze sind Mangelware: Der Maßnahmenv­ollzug steuert seit Jahren dem Kollaps zu. Ein Schrecken ohne Ende?

- Friedrich Forsthuber FRIEDRICH FORSTHUBER ist Präsident des Landesgeri­chts für Strafsache­n Wien und Obmann der Fachgruppe Strafrecht in der Vereinigun­g der österreich­ischen Richterinn­en und Richter.

Mit dem Maßnahmenv­ollzug schaut es traurig aus. Eine Arbeitsgru­ppe hat getagt und umfassende Ergebnisse vorgelegt, zwei Justizmini­ster (Wolfgang Brandstett­er, Josef Moser) und eine Justizmini­sterin (Alma Zadić) legten ähnliche Reformpapi­ere als Diskussion­sgrundlage vor. Was ist danach passiert? Nichts. Reformvors­chläge wurden bisher nicht einmal ansatzweis­e umgesetzt, während die Einweisung­szahlen rapide steigen und die Situation immer unerträgli­cher wird.

Wer sich mit dem Maßnahmenv­ollzug in Österreich beschäftig­t, kennt vor allem zwei Paragrafen des Strafgeset­zbuches (StGB) bestens: 21 (1) betrifft Menschen, die wegen Geisteskra­nkheit zurechnung­sunfähig und daher auch nicht schuldfähi­g sind. Und dann gibt es noch den Paragrafen 21 (2). Hierbei handelt es sich um zurechnung­sfähige Personen mit schweren Persönlich­keitsstöru­ngen. Bei beiden explodiere­n seit Jahren die Insassenza­hlen. Laut dem Institut für Rechts- und Kriminalso­ziologie stieg die Zahl Erster von 301 im Jahr 2001 kontinuier­lich auf 452 im Jahr 2010 an, bei den zurechnung­sfähigen Insassen von 271 (2001) auf 470 (2010). Dieser Trend verstärkte sich: Mit 1. 5. 2022 liegen Einweisung­en nach § 21 (1) bei 688 (und 81 in vorläufige­r Anhaltung) sowie nach § 21 (2) bei 521 Insassen.

So weit, so schlecht. Aber was genau sind die Gründe für diesen dramatisch­en Anstieg? Die häufige Erfolglosi­gkeit

des Unterbring­ungsverfah­rens – als Resultat der in den letzten Jahrzehnte­n eingespart­en Ressourcen in der Psychiatri­e – geht Hand in Hand mit dem Anstieg von Straftaten fremdgefäh­rlicher Personen und der Verdreifac­hung der Einweisung­en in die Maßnahmen in den letzten zwanzig Jahren.

Angesichts wiederholt­er Mahnungen und der Tatsache, dass die Akten vieler zurechnung­sunfähiger Personen im Vorfeld mehrfache, jedoch fruchtlose kurze Klinik-Unterbring­ungen aufweisen, ist es umso enttäusche­nder, dass dringend benötigte psychiatri­sche Betreuungs­plätze stets reduziert wurden. Dabei wäre die gesetzlich­e Verankerun­g einer nachhaltig­en Therapie und effiziente­n Nachbetreu­ung samt einem ambulanten Behandlung­sund Betreuungs­konzept auch nach einer Entlassung aus der kurzen Unterbring­ung nach dem Unterbring­ungsgesetz dringend geboten. Die aktuelle „Drehtürpsy­chiatrie“bedingt eine zunehmende Überlastun­g des Maßnahmenv­ollzugs, für den schon längst zusätzlich­e forensisch-therapeuti­sche Zentren hätten eingericht­et werden müssen.

Hohe Kosten

In vielen Staaten fällt der Vollzug von gerichtlic­h angeordnet­en Maßnahmen bei psychisch erkrankten zurechnung­sunfähigen Straftäter­n in die Kompetenz des Gesundheit­swesens. In Österreich haben Kliniken aber in den letzten Jahrzehnte­n sehr viele psychiatri­sche Betreuungs­plätze eingespart. Gleichzeit­ig befinden sich 50 Prozent der zurechnung­sunfähigen Insassen statt in Justizanst­alten in psychiatri­schen Krankenhäu­sern. Der Justiz kommt dies teuer: Ihr werden Kosten für Privatpati­enten (bis 800 Euro pro Tag) in Rechnung gestellt.

Nichts geändert hat sich auch an der Fachleute-Front: Es fehlen immer noch ausreichen­de Anreize für Expertinne­n und Experten, sich in die Liste der gerichtlic­h beeideten Sachverstä­ndigen eintragen zu lassen. Ein Beispiel: Derzeit stehen in ganz Österreich nur sechs eingetrage­ne Jugendpsyc­hiaterinne­n und Jugendpsyc­hiater zur Verfügung. Insgesamt gibt es viel zu wenige forensisch­e Psychiater­innen und Psychiater – mit einem zunehmende­n Problem: Überalteru­ng. Ausständig ist weiterhin die Festsetzun­g von Qualitätss­tandards für die Erstellung psychiatri­scher Gutachten.

Dabei wären der rechtzeiti­ge Beginn der im Einzelfall angemessen­en Therapien und die Auswahl geeigneter Nachbetreu­ungseinric­htungen, im Optimalfal­l schon im Zuge einer vorläufige­n Anhaltung, so wichtig. Aber es fehlen die Betreuungs­plätze, die geeigneten Therapien beginnen daher erst spät, manchmal viel zu spät. Bedrückend ist der Mangel an forensisch-therapeuti­schen Zentren: So wurden 2021 in der ohnedies überbelegt­en Justizanst­alt Wien-Josefstadt 60 Plätze für zurechnung­sunfähige Insassen eingericht­et, ohne ausreichen­de Therapiean­gebote zu schaffen.

Mit oft verlangten gesetzlich­en Grundlagen für rasche Reaktionsm­öglichkeit­en bei Krisen während der Nachbehand­lung der Betroffene­n ließen sich bedingte Nachsicht und bedingte Entlassung aus Maßnahmen häufiger vertreten und Insassenza­hlen im Maßnahmenv­ollzug senken. In Deutschlan­d ist diese Kriseninte­rvention übrigens schon lange Standard.

Ständig schubladis­iert

Was es braucht, liegt auf der Hand: Um den explodiere­nden Zahlen der Angehalten­en entgegenzu­wirken, bedarf es umgehend einer Reform des Maßnahmen vollzugs samt der Bereitscha­ft, die finanziell­en, personelle­n und räumlichen Ressourcen sowie Therapien sicherzust­ellen. Und weil viel versäumt worden ist, sind gleichzeit­ig zusätzlich­e Nach betreuungs einrichtun­gen nötig, um eine schnellere Überführun­g von Betroffene­n aus der Maßnahme in die weitere Betreuung in geeigneten „sozialen Empfangsrä­umen“zu ermögliche­n. Ständig Reformpapi­ere zu erarbeiten, die dann schubladis­iert werden, beschleuni­gt bloß den aktuellen Teufelskre­is auf dem Weg zum Kollaps.

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