Russland drosselt Gaslieferungen nach Europa noch weiter
Russland fährt die Gaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 weiter zurück. Gazprom verweist auf technische Probleme, die deutsche Regierung hält das für politisch motiviert und spricht von einer angespannten Lage. Österreich gibt vorerst Entw
Moskau/Wien – Russland bringt immer weniger Gas nach Europa. Frankreich erhält kein Gas mehr von Moskau, die Slowakei und Italien zuletzt nur mehr die Hälfte. Der Energielieferant Gazprom argumentiert das mit technischen Problemen bei der Pipeline Nord Stream 1. In Deutschland spricht man von einer „angespannten“Lage, in Österreich wurde zuletzt Entwarnung gegeben.
Der Unfall in der Raffinerie Schwechat erschwert die Versorgungslage hierzulande aber. Bereits seit 19. April ist die dortige Hauptdestillationsanlage außer Betrieb. Ein Unfall am 3. Juni macht nun Reparaturen notwendig, die noch viele Wochen dauern könnten. (red)
Und plötzlich kommt 60 Prozent weniger Gas an, als dies normalerweise der Fall ist. So geschehen schon am Fronleichnamstag, und so ist es weitergegangen auch gestern, Freitag. Geht es nach Gazprom, dem russischen Gasmonopolisten, wird die Liefereinschränkung bei der betroffenen Pipeline Nord Stream 1, einer der Hauptschlagadern im Gastransit von Ost nach West, noch einige Zeit anhalten.
Frage: Was ist das Problem?
Antwort: Gazprom argumentiert mit technischen Problemen, warum die Kapazität der Ostseepipeline Nord Stream 1 zurückgefahren werden musste.
Frage: Welcher Art sind die Probleme?
Antwort: Siemens Energy hat 2009 Gasturbinen für eine Verdichterstation der Nord-Stream-1-Pipeline geliefert. Die Anlagen treiben Verdichter an, die für die Druckerhöhung des Erdgases in der Pipeline erforderlich sind. Diese Turbinen wurden in Kanada gefertigt und sind seit mehr als zehn Jahren im Einsatz. Um den Betrieb der Pipeline aufrechtzuerhalten, ist es notwendig, diese Turbinen regelmäßig zu überholen. Dies sei aus technischen Gründen ausschließlich in Kanada möglich, heißt es bei Siemens.
Frage: Warum werden die nicht einfach geliefert und alles ist gut?
Antwort: Wegen der von Kanada verhängten Sanktionen gegen Russland sei es derzeit nicht möglich, die überholten Gasturbinen an den Kunden zu liefern, heißt es.
Frage: Verhindern die Sanktionen die Auslieferung?
Antwort: Jedenfalls erleichtern sie das Ganze nicht. Ob aber wirklich ein Hinderungsgrund vorliegt, darüber sprechen nach Angaben des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck (Bündnis 90 / Die Grünen) deutsche und kanadische Behörden seit Tagen – Ausgang noch ungewiss.
Frage: Ist der Einbruch der Liefermenge auf 40 Prozent mit der Wartung erklärbar?
Antwort: Experten und Expertinnen sagen: in der Höhe nie und nimmer. Auch die Bundesnetzagentur in Bonn hat das Vorgehen Moskaus als „technisch nicht zu begründen“bezeichnet. Minister Habeck seinerseits sagt: „Die Begründung der russischen Seite ist schlicht vorgeschoben. Es ist offenkundig die Strategie, zu verunsichern und die Preise hochzutreiben.“
Frage: Ist von der Liefereinschränkung auch Österreich betroffen?
Antwort: In kleinerem Ausmaß ja, weil für Österreich bestimmte Mengen nicht nur über Leitungen durch die Ukraine und die Slowakei ins Land kommen, sondern auch über die Ostseeroute. Die OMV hat Lieferverträge mit Gazprom vereinbart, die als Übergabepunkt auch Lubmin bei Greifswald an der deutschen Ostsee vorsehen, nicht nur Baumgarten an der niederösterreichischslowakischen Grenze. Dieses Gas wird nach Angaben der OMV großteils zur Belieferung von Kunden in Deutschland verwendet, ein kleinerer Teil komme aber über Leitungen durch Tschechien physisch auch nach Österreich.
Frage: Und in Baumgarten, kommt da noch genug Gas an?
Antwort: Bis dato wurde kein signifikanter Druckabfall bei der Übergabestation in Baumgarten festgestellt. Zwar gibt es Wartungsarbeiten, die schon länger angekündigt wurden, an einem Leitungsstrang durch die Slowakei. Davon sollte man aber beim Gasknoten Baumgarten kaum etwas spüren, sagt Carola Millgramm, Leiterin des Bereichs Gas in der E-Control.
Frage: Ist Nord Stream 1 nicht stillgelegt worden?
Antwort: Beim stillgelegten Projekt handelt es sich um Nord Stream 2, das Schwesterprojekt, mit dem die Leitungskapazität verdoppelt werden sollte. Das umstrittene Projekt, das unter anderem die OMV mitfinanziert hat, wurde im vergangenen Herbst fertiggestellt, hat wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in der Folge aber nie die notwendige Betriebszulassung erhalten. Die OMV musste inklusive Zinsen rund eine Milliarde Euro abschreiben.
Frage: Wer ist besonders betroffen von den eingeschränkten Lieferkapazitäten von Nord Stream 1?
Antwort: Frankreich erhält kein Gas mehr aus Russland. Wie der französische Netzbetreiber GRTgaz mitteilte, ist dies bereits seit Mittwoch der Fall –und zudem der Unterbrechung des Gasflusses zwischen Frankreich und Deutschland geschuldet. Frankreich bekommt rund 17 Prozent seiner Gaslieferungen aus Russland, das meiste normalerweise über Pipelines, den Rest als verflüssigtes Erdgas (LNG).
Frage: Macht sich Frankreich deswegen Sorgen?
Antwort: Nicht übermäßig. Die Speicher im Land sind derzeit zu 56 Prozent gefüllt, normal zu dieser Zeit sind rund 50 Prozent. Zudem kann sich Frankreich viel leichter als andere Länder mit LNG eindecken, da es genügend Terminals gibt.
Frage: Wer ist noch in größerem Umfang von Liefereinschränkungen über die Nordroute betroffen?
Antwort: Italien. Nach Angaben des teilstaatlichen Gasversorgers Eni hat Gazprom nur noch 50 Prozent der bestellten Liefermenge zugesagt. Schon in den vergangenen Tagen sind die russischen Gaslieferungen nach Italien gedrosselt worden: am Mittwoch um 15 Prozent, am Donnerstag um 35 Prozent und ab sofort um 50 Prozent.
Frage: Könnte es auch politische Motive für das Handeln Russlands geben?
Antwort: Beobachter sagen, unbedingt, und bringen das in Zusammenhang mit dem Besuch des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi, der zusammen mit Deutschlands Olaf Scholz und Frankreichs Emmanuel Macron Wolodymyr Selenskyj in Kiew besucht und ihm Unterstützung als Beitrittskandidat zur EU zugesichert haben.
Frage: Wie ist die Speichersituation derzeit in Österreich?
Antwort: Die Speicher im Land sind im Schnitt zu 40,2 Prozent gefüllt – Stand Freitagnachmittag. Dabei gibt es aber erhebliche Unterschiede. Während die Speicher der OMV zu fast 63 Prozent gefüllt sind und auch das zweite österreichische Speicherunternehmen RAG, das noch dazu über das meiste Speichervolumen in Österreich verfügt, mit 54,8 Prozent viel aufgeholt hat, tut sich beim Gazprom-Speicher GSA nichts. Seit Monaten schon ist dort kein Gas eingespeichert.
Frage: Wie ist die Lage beim zweiten, Gazprom zuzurechnenden Speicher Astora?
Antwort: Der Astora-Speicher ist zu 44,3 Prozent gefüllt. Er gehört oder gehörte vielmehr Gazprom-Germania,
einer Tochter des russischen Gasmonopolisten, die von der Bundesnetzagentur nunmehr treuhändisch verwaltet wird. Der GSASpeicher hingegen gehört GazpromExport und wird von dieser vermarktet. Durch ein neues Gesetz will sich Österreich künftig Zugriff auf diese Speicher verschaffen.
Frage: Gibt es in Österreich Sorgen wegen der Liefereinschränkung bei Nord Stream 1?
Antwort: Die Versorgungssicherheit sei gewährleistet, heißt es vonseiten der E-Control und des zuständigen Klimaschutzministeriums, die Situation werde aufmerksam verfolgt.
Frage: Und die Industrie?
Antwort: Die macht sich sehr wohl Sorgen und verlangt einmal mehr Klarheit, was im Ernstfall passiert, wenn eben weniger oder gar kein Gas mehr in Österreich ankommen sollte. Verschiedene Unternehmen hätten selbst Notfallpläne erarbeitet und Maßnahmen in die Wege geleitet, um die Abhängigkeit von russischem Gas durch Switch auf Heizöl oder andere Energieträger zu verringern, heißt es etwa seitens der chemischen Industrie. Österreich ist zu 80 Prozent von russischem Gas abhängig, wovon etwa 40 Prozent auf die Industrie insgesamt entfallen.
Frage: Ist der Preissprung um gut 50 Prozent auf über 120 Euro pro Megawattstunde nur auf die Liefereinschränkung bei Nord Stream 1 zurückzuführen?
Antwort: Nein. Der Preissprung hat auch damit zu tun, dass ein wichtiger Verladeterminal für verflüssigtes Erdgas in Texas nach einem Brand wohl bis zum Winter ausfällt. Zehn von 14 Schiffen sind zuletzt von dort Richtung Europa ausgelaufen.
Er hat es also wieder getan. Wladimir Putin hat die Gaspreise wie kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine neuerlich durch die Decke gehen lassen. Dazu hat die Ankündigung der ihm hörigen Gazprom gereicht, aus technischen Gründen nur 40 Prozent der Kapazität über Nord Stream 1 liefern zu können. Die am Boden der Ostsee verlaufende, 2011 in Betrieb genommene Leitung ist die größte, aber nicht die einzige, die Gas aus Sibirien nach Europa bringt. Sie steht aber definitiv symbolhaft da, seitdem das Nachfolgeprojekt Nord Stream 2 im Anschluss an Russlands Einmarsch in die Ukraine von europäischer Seite abgedreht worden ist.
Frankreich bekommt nun gar kein Gas mehr aus Russland, Italien um die Hälfte weniger, Deutschland, Tschechien und Österreich spüren den Druckabfall in der Leitung ebenfalls. Und die Konsumenten werden die Konsequenzen wohl auch bald in Form noch höherer Gasrechnungen tragen müssen.
Offenbar will Putin, der sich durch westliche Sanktionen infolge des Angriffskriegs auf das Nachbarland immer mehr in die Enge getrieben sieht, nun seinerseits den Druck auf Europa erhöhen und versuchen, einen Keil in den Block zu treiben. Dass wegen des Ausfalls einer Turbine, die nach Wartungsarbeiten in Kanada sanktionsbedingt nicht geliefert werden könne, dauerhaft 60 Prozent der Transportleistung wegbrechen, klingt schon einigermaßen durchsichtig.
Klar ist, dass die Liefereinschränkung Europa gerade im Hinblick auf den Winter trifft. Österreichs Speicher etwa sind zu gut 40 Prozent gefüllt; bis Oktober sollten es 80 Prozent werden, um einen Sicherheitspuffer in der nächsten Heizsaison zu haben. All das wissen die Strategen in Moskau auch. Andererseits hat Russland das Gasgeld bitter nötig und wird nichts tun, es zu verspielen. Jetzt heißt es in der EU zusammenstehen, einig bleiben und sich gegenseitig helfen.