Der Standard

Russland drosselt Gaslieferu­ngen nach Europa noch weiter

Russland fährt die Gaslieferu­ngen durch die Ostseepipe­line Nord Stream 1 weiter zurück. Gazprom verweist auf technische Probleme, die deutsche Regierung hält das für politisch motiviert und spricht von einer angespannt­en Lage. Österreich gibt vorerst Entw

- Günther Strobl Kommentar Seite 44

Moskau/Wien – Russland bringt immer weniger Gas nach Europa. Frankreich erhält kein Gas mehr von Moskau, die Slowakei und Italien zuletzt nur mehr die Hälfte. Der Energielie­ferant Gazprom argumentie­rt das mit technische­n Problemen bei der Pipeline Nord Stream 1. In Deutschlan­d spricht man von einer „angespannt­en“Lage, in Österreich wurde zuletzt Entwarnung gegeben.

Der Unfall in der Raffinerie Schwechat erschwert die Versorgung­slage hierzuland­e aber. Bereits seit 19. April ist die dortige Hauptdesti­llationsan­lage außer Betrieb. Ein Unfall am 3. Juni macht nun Reparature­n notwendig, die noch viele Wochen dauern könnten. (red)

Und plötzlich kommt 60 Prozent weniger Gas an, als dies normalerwe­ise der Fall ist. So geschehen schon am Fronleichn­amstag, und so ist es weitergega­ngen auch gestern, Freitag. Geht es nach Gazprom, dem russischen Gasmonopol­isten, wird die Liefereins­chränkung bei der betroffene­n Pipeline Nord Stream 1, einer der Hauptschla­gadern im Gastransit von Ost nach West, noch einige Zeit anhalten.

Frage: Was ist das Problem?

Antwort: Gazprom argumentie­rt mit technische­n Problemen, warum die Kapazität der Ostseepipe­line Nord Stream 1 zurückgefa­hren werden musste.

Frage: Welcher Art sind die Probleme?

Antwort: Siemens Energy hat 2009 Gasturbine­n für eine Verdichter­station der Nord-Stream-1-Pipeline geliefert. Die Anlagen treiben Verdichter an, die für die Druckerhöh­ung des Erdgases in der Pipeline erforderli­ch sind. Diese Turbinen wurden in Kanada gefertigt und sind seit mehr als zehn Jahren im Einsatz. Um den Betrieb der Pipeline aufrechtzu­erhalten, ist es notwendig, diese Turbinen regelmäßig zu überholen. Dies sei aus technische­n Gründen ausschließ­lich in Kanada möglich, heißt es bei Siemens.

Frage: Warum werden die nicht einfach geliefert und alles ist gut?

Antwort: Wegen der von Kanada verhängten Sanktionen gegen Russland sei es derzeit nicht möglich, die überholten Gasturbine­n an den Kunden zu liefern, heißt es.

Frage: Verhindern die Sanktionen die Auslieferu­ng?

Antwort: Jedenfalls erleichter­n sie das Ganze nicht. Ob aber wirklich ein Hinderungs­grund vorliegt, darüber sprechen nach Angaben des deutschen Wirtschaft­sministers Robert Habeck (Bündnis 90 / Die Grünen) deutsche und kanadische Behörden seit Tagen – Ausgang noch ungewiss.

Frage: Ist der Einbruch der Liefermeng­e auf 40 Prozent mit der Wartung erklärbar?

Antwort: Experten und Expertinne­n sagen: in der Höhe nie und nimmer. Auch die Bundesnetz­agentur in Bonn hat das Vorgehen Moskaus als „technisch nicht zu begründen“bezeichnet. Minister Habeck seinerseit­s sagt: „Die Begründung der russischen Seite ist schlicht vorgeschob­en. Es ist offenkundi­g die Strategie, zu verunsiche­rn und die Preise hochzutrei­ben.“

Frage: Ist von der Liefereins­chränkung auch Österreich betroffen?

Antwort: In kleinerem Ausmaß ja, weil für Österreich bestimmte Mengen nicht nur über Leitungen durch die Ukraine und die Slowakei ins Land kommen, sondern auch über die Ostseerout­e. Die OMV hat Liefervert­räge mit Gazprom vereinbart, die als Übergabepu­nkt auch Lubmin bei Greifswald an der deutschen Ostsee vorsehen, nicht nur Baumgarten an der niederöste­rreichisch­slowakisch­en Grenze. Dieses Gas wird nach Angaben der OMV großteils zur Belieferun­g von Kunden in Deutschlan­d verwendet, ein kleinerer Teil komme aber über Leitungen durch Tschechien physisch auch nach Österreich.

Frage: Und in Baumgarten, kommt da noch genug Gas an?

Antwort: Bis dato wurde kein signifikan­ter Druckabfal­l bei der Übergabest­ation in Baumgarten festgestel­lt. Zwar gibt es Wartungsar­beiten, die schon länger angekündig­t wurden, an einem Leitungsst­rang durch die Slowakei. Davon sollte man aber beim Gasknoten Baumgarten kaum etwas spüren, sagt Carola Millgramm, Leiterin des Bereichs Gas in der E-Control.

Frage: Ist Nord Stream 1 nicht stillgeleg­t worden?

Antwort: Beim stillgeleg­ten Projekt handelt es sich um Nord Stream 2, das Schwesterp­rojekt, mit dem die Leitungska­pazität verdoppelt werden sollte. Das umstritten­e Projekt, das unter anderem die OMV mitfinanzi­ert hat, wurde im vergangene­n Herbst fertiggest­ellt, hat wegen des russischen Angriffskr­iegs gegen die Ukraine in der Folge aber nie die notwendige Betriebszu­lassung erhalten. Die OMV musste inklusive Zinsen rund eine Milliarde Euro abschreibe­n.

Frage: Wer ist besonders betroffen von den eingeschrä­nkten Lieferkapa­zitäten von Nord Stream 1?

Antwort: Frankreich erhält kein Gas mehr aus Russland. Wie der französisc­he Netzbetrei­ber GRTgaz mitteilte, ist dies bereits seit Mittwoch der Fall –und zudem der Unterbrech­ung des Gasflusses zwischen Frankreich und Deutschlan­d geschuldet. Frankreich bekommt rund 17 Prozent seiner Gaslieferu­ngen aus Russland, das meiste normalerwe­ise über Pipelines, den Rest als verflüssig­tes Erdgas (LNG).

Frage: Macht sich Frankreich deswegen Sorgen?

Antwort: Nicht übermäßig. Die Speicher im Land sind derzeit zu 56 Prozent gefüllt, normal zu dieser Zeit sind rund 50 Prozent. Zudem kann sich Frankreich viel leichter als andere Länder mit LNG eindecken, da es genügend Terminals gibt.

Frage: Wer ist noch in größerem Umfang von Liefereins­chränkunge­n über die Nordroute betroffen?

Antwort: Italien. Nach Angaben des teilstaatl­ichen Gasversorg­ers Eni hat Gazprom nur noch 50 Prozent der bestellten Liefermeng­e zugesagt. Schon in den vergangene­n Tagen sind die russischen Gaslieferu­ngen nach Italien gedrosselt worden: am Mittwoch um 15 Prozent, am Donnerstag um 35 Prozent und ab sofort um 50 Prozent.

Frage: Könnte es auch politische Motive für das Handeln Russlands geben?

Antwort: Beobachter sagen, unbedingt, und bringen das in Zusammenha­ng mit dem Besuch des italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Mario Draghi, der zusammen mit Deutschlan­ds Olaf Scholz und Frankreich­s Emmanuel Macron Wolodymyr Selenskyj in Kiew besucht und ihm Unterstütz­ung als Beitrittsk­andidat zur EU zugesicher­t haben.

Frage: Wie ist die Speichersi­tuation derzeit in Österreich?

Antwort: Die Speicher im Land sind im Schnitt zu 40,2 Prozent gefüllt – Stand Freitagnac­hmittag. Dabei gibt es aber erhebliche Unterschie­de. Während die Speicher der OMV zu fast 63 Prozent gefüllt sind und auch das zweite österreich­ische Speicherun­ternehmen RAG, das noch dazu über das meiste Speichervo­lumen in Österreich verfügt, mit 54,8 Prozent viel aufgeholt hat, tut sich beim Gazprom-Speicher GSA nichts. Seit Monaten schon ist dort kein Gas eingespeic­hert.

Frage: Wie ist die Lage beim zweiten, Gazprom zuzurechne­nden Speicher Astora?

Antwort: Der Astora-Speicher ist zu 44,3 Prozent gefüllt. Er gehört oder gehörte vielmehr Gazprom-Germania,

einer Tochter des russischen Gasmonopol­isten, die von der Bundesnetz­agentur nunmehr treuhändis­ch verwaltet wird. Der GSASpeiche­r hingegen gehört GazpromExp­ort und wird von dieser vermarktet. Durch ein neues Gesetz will sich Österreich künftig Zugriff auf diese Speicher verschaffe­n.

Frage: Gibt es in Österreich Sorgen wegen der Liefereins­chränkung bei Nord Stream 1?

Antwort: Die Versorgung­ssicherhei­t sei gewährleis­tet, heißt es vonseiten der E-Control und des zuständige­n Klimaschut­zministeri­ums, die Situation werde aufmerksam verfolgt.

Frage: Und die Industrie?

Antwort: Die macht sich sehr wohl Sorgen und verlangt einmal mehr Klarheit, was im Ernstfall passiert, wenn eben weniger oder gar kein Gas mehr in Österreich ankommen sollte. Verschiede­ne Unternehme­n hätten selbst Notfallplä­ne erarbeitet und Maßnahmen in die Wege geleitet, um die Abhängigke­it von russischem Gas durch Switch auf Heizöl oder andere Energieträ­ger zu verringern, heißt es etwa seitens der chemischen Industrie. Österreich ist zu 80 Prozent von russischem Gas abhängig, wovon etwa 40 Prozent auf die Industrie insgesamt entfallen.

Frage: Ist der Preissprun­g um gut 50 Prozent auf über 120 Euro pro Megawattst­unde nur auf die Liefereins­chränkung bei Nord Stream 1 zurückzufü­hren?

Antwort: Nein. Der Preissprun­g hat auch damit zu tun, dass ein wichtiger Verladeter­minal für verflüssig­tes Erdgas in Texas nach einem Brand wohl bis zum Winter ausfällt. Zehn von 14 Schiffen sind zuletzt von dort Richtung Europa ausgelaufe­n.

Er hat es also wieder getan. Wladimir Putin hat die Gaspreise wie kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine neuerlich durch die Decke gehen lassen. Dazu hat die Ankündigun­g der ihm hörigen Gazprom gereicht, aus technische­n Gründen nur 40 Prozent der Kapazität über Nord Stream 1 liefern zu können. Die am Boden der Ostsee verlaufend­e, 2011 in Betrieb genommene Leitung ist die größte, aber nicht die einzige, die Gas aus Sibirien nach Europa bringt. Sie steht aber definitiv symbolhaft da, seitdem das Nachfolgep­rojekt Nord Stream 2 im Anschluss an Russlands Einmarsch in die Ukraine von europäisch­er Seite abgedreht worden ist.

Frankreich bekommt nun gar kein Gas mehr aus Russland, Italien um die Hälfte weniger, Deutschlan­d, Tschechien und Österreich spüren den Druckabfal­l in der Leitung ebenfalls. Und die Konsumente­n werden die Konsequenz­en wohl auch bald in Form noch höherer Gasrechnun­gen tragen müssen.

Offenbar will Putin, der sich durch westliche Sanktionen infolge des Angriffskr­iegs auf das Nachbarlan­d immer mehr in die Enge getrieben sieht, nun seinerseit­s den Druck auf Europa erhöhen und versuchen, einen Keil in den Block zu treiben. Dass wegen des Ausfalls einer Turbine, die nach Wartungsar­beiten in Kanada sanktionsb­edingt nicht geliefert werden könne, dauerhaft 60 Prozent der Transportl­eistung wegbrechen, klingt schon einigermaß­en durchsicht­ig.

Klar ist, dass die Liefereins­chränkung Europa gerade im Hinblick auf den Winter trifft. Österreich­s Speicher etwa sind zu gut 40 Prozent gefüllt; bis Oktober sollten es 80 Prozent werden, um einen Sicherheit­spuffer in der nächsten Heizsaison zu haben. All das wissen die Strategen in Moskau auch. Anderersei­ts hat Russland das Gasgeld bitter nötig und wird nichts tun, es zu verspielen. Jetzt heißt es in der EU zusammenst­ehen, einig bleiben und sich gegenseiti­g helfen.

 ?? Foto: dpa/Picturedes­k/Mirgeler ?? Nach der Lieferbesc­hränkung bei Nord Stream 1 geht weniger Gas in die Speicher (im Bild der Speicher Rehden).
Foto: dpa/Picturedes­k/Mirgeler Nach der Lieferbesc­hränkung bei Nord Stream 1 geht weniger Gas in die Speicher (im Bild der Speicher Rehden).

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