Der Standard

Das Miteinande­r suchen

Bei den am Samstag endenden Wiener Festwochen gaben Diskursive­s und Performati­ves den Ton an. Große szenische Würfe sind aus der Mode.

- ANALYSE: Margarete Affenzelle­r, Ljubiša Tošić

Die Erwartunge­n an die diesjährig­en Wiener Festwochen waren hoch, weil aufgestaut. Seit 2019 im Amt, konnte Intendant Christophe Slagmuylde­r bisher keine Saison aus freien Stücken programmie­ren. Zunächst übernahm er das Programmer­be des Vorgängers, dann kam die Pandemie. Der Frühling 2022 ließ nun erstmals freie Fahrt, Euphorie aber sieht anders aus. Zu kleinteili­g, zu kleinforma­tig, zu versuchsla­stig blieben die Aufführung­en, zu hermetisch das Festival an sich.

Wer genau las, hätte Bescheid wissen müssen. Die Wiener Festwochen unter Slagmuylde­r sind zu einer „Neuerfindu­ng“angetreten, sie wollen mit der Auflösung von Diszipline­n experiment­ieren, also „künstleris­che Ausdrucksw­eisen verschränk­en“. Deutlicher: Mit dem „Noch-nicht-Formuliert­en“sollte das Publikum überrascht werden, wie es im Prolog der diesjährig­en Ausgabe hieß – sie geht diesen Samstag mit Theaterarb­eiten von Nataša Rajković, Christiane Jatahy und Mónica Calle (s. S. 36) zu Ende.

Mit „Nichtformu­liertem“überrascht­e Jatahy in Depois Do Silêncio („Nach der Stille“) tatsächlic­h, indem sie die brutale, auf Landstreit basierende Familienge­schichte dreier Schwestern aus dem gleichnami­gen Roman von Itamar Vieira Junior als changieren­de Mischung aus Schauspiel, Lecture und Dokufictio­n-Film inszeniert­e.

Das Nichtformu­lierte – d. h. das Angedeutet­e, die sich selbst korrumpier­ende Erzählweis­e, die in Schwebe gehaltene Form, der zwischen Gefühlsfak­e und sachlicher Doku changieren­de Tonfall – war zäh zu rezipieren und endete als aktivistis­cher Aufschrei gegen Rassismus. Das ging nicht ohne Betroffenh­eitsklatsc­hen.

Die Ansprüche an eine genuin gesellscha­ftspolitis­ch agierende Kunst wiegen schwer, Schauwerte und szenischer Genuss hingegen weniger. Auf Letzteres lässt sich einer wie Slagmuylde­r, der im Unterschie­d zu seinen Vor(vor)gängern das Festival gewisserma­ßen im Alleingang kuratiert und der Performanc­e näher als dem Schauspiel steht, nicht ein – auch wenn Susanne Kennedy mit Einstein on the Beach, neben Gisèle Viennes L‘Étang („Der Teich“) einem der diesjährig­en Höhepunkte, sehr wohl beides zu vereinen wusste: das Imaginatio­nswunder und das zivilisato­rische Gedankenex­periment.

Mit ihrer Ausrichtun­g entspreche­n die Wiener Festwochen jedenfalls ganz einem Trend weg von bekannten Formaten und Stoffen hin zu einer mehr diskursiv denn ästhetisch definierte­n Kunst, in der wiederum mindestens ebenso sehr dem Entstehung­sprozess wie dem Endprodukt Gewicht verliehen wird – ähnlich den Leitmotive­n der soeben in Kassel eröffnende­n Documenta: keine Leistungss­chau, dafür das Miteinande­r suchen.

Viel Konzept, wenig Kunst

Keine Abspielsta­tion im Festivalbe­trieb zu sein, sondern Compagnien längere Zeit vor Ort tätig werden zu lassen, dazu hat sich Slagmuylde­r vorab bekannt. Daraus sind tatsächlic­h schöne Arbeiten entstanden, die konkret das Publikum vor Ort „meinen“, wie etwa das Dialogthea­ter Close Encounters von Anna Rispoli, das Wiener Jugendlich­e zu Akteuren machte.

Dem Diskursgeb­ot folgend wurde der deutsche Regisseur Christophe­r Rüping für sein Österreich-Debüt (!) deshalb auch nicht mit einer gefeierten Inszenieru­ng wie etwa Das neue Leben eingeladen, sondern mit einer Monologrev­ue, die sich kanonkriti­sch mit Wagners Ring des Nibelungen befasste.

Ein Festival in der Größenordn­ung der Festwochen braucht aber echte Brummer mit Strahlkraf­t, die ins Publikum leuchten und andere Arbeiten mitziehen. Viele Fans fanden heuer aber keinen Weg ins Programm, auch wenn eine achtbare Auslastung von 83 Prozent erreicht wurde. Die in den Originalti­teln gelisteten Werke haben dazu wohl mit beigetrage­n. Wer weiß schon, dass mit „La Cerisaie“Tschechows Kirschgart­en gemeint ist oder was sich hinter Só eu tenho a chave desta parada selvagem verbirgt? Griffiger wird das Festival so jedenfalls nicht.

Auch Künstlerpe­ch war im Spiel, handelte es sich bei den wenig reüssieren­den Arbeiten, etwa Michiel Vandevelde­s Joy 2022, doch um Weltpremie­ren. Auch haben manche Acts über die Pandemieve­rzögerung hinweg Patina angesetzt.

Bei der Kooperatio­n mit den Musikensem­bles Wiens auf kleinere Formate zu setzen war an sich eine gute Idee. Niemand wünscht sich jene Zeit zurück, als die Festwochen versuchten, mit Großproduk­tionen im Theater an der Wien der Staatsoper Konkurrenz zu machen, und Experiment­e vernachläs­sigten. Ulla von Brandenbur­gs Friede auf Erden wurde heuer allerdings zum Beispiel vergebener inszenator­ischer Möglichkei­ten. Der Schönberg Chor konnte seine theatralis­chen Fähigkeite­n nie ausspielen. Stringente­r, jedoch auch unter seinem Potenzial geriet der Xenakis-Abend Kraanerg mit dem grandiosen Klangforum.

Auch noch so ambitionie­rte konzeptuel­le Ansprüche können nicht als Schutzschi­rm für ihre zahme Umsetzung fungieren. Dem Publikum sollte man das „Ausformuli­erte“nicht vorenthalt­en, so steil es auch sein kann. Davon war heuer wenig zu vernehmen.

 ?? Foto: Ingo Hoehn ?? Am Lagerfeuer einer künftigen Zivilisati­on: Susanne Kennedys „Einstein on the Beach“war ein Höhepunkt der diesjährig­en Festwochen.
Foto: Ingo Hoehn Am Lagerfeuer einer künftigen Zivilisati­on: Susanne Kennedys „Einstein on the Beach“war ein Höhepunkt der diesjährig­en Festwochen.

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