Der Standard

Protest mit Pappe und Postern

Die Documenta 15 erschließt den Osten Kassels: Im dortigen Hallenbad Ost zeigt das Kollektiv Taring Padi 20 Jahre bunten Protests

- Amira Ben Saoud aus Kassel

Ein Highlight der diesjährig­en Documenta ist ihre Osterweite­rung. Soll heißen: Das kuratorisc­he Kollektiv Ruangrupa scheute sich nicht davor, die Fulda zu überqueren und ein paar Ausstellun­gslocation­s im Kasseler Stadtteil Bettenhaus­en aufzustell­en. Das mag jetzt zwar nicht wie eine sonderlich große Leistung klingen, denn dieser geheimnisv­olle Osten ist drei Straßenbah­nstationen vom Zentrum entfernt, aber tatsächlic­h war noch kein Documenta-Kurator vor Ruangrupa auf die Idee gekommen, sich dort umzuschaue­n. Dass Immobilien­entwickler und die Stadt nun hoffen, der Osten könnte durch die Kunstausst­ellung eine Aufwertung erfahren, war wohl nicht die Idee des Kollektivs. Aber auch Ruangrupa kann nicht immer gegen den Kapitalism­us und seine Erscheinun­gsformen wie Gentrifizi­erung gewinnen.

Die Ruangrupas hoben in Bettenhaus­en jedenfalls mehrere kleine Schätze wie die bröckelnde, nicht mehr im römisch-katholisch­en Einsatz befindlich­e Kirche St. Kunigundis, in der das haitianisc­he Kollektiv Atis Rezistans sein widerständ­iges Unwesen mit menschlich­en Überresten treibt, oder das Hallenbad Ost. Letzteres gehört zu den wenigen Gebäuden in Kassel, die dem Bauhaus-Stil zuzurechne­n sind. Es ist seit 2007 außer Betrieb und wäre fast abgerissen worden, bevor der Denkmalsch­utz ein Veto einlegte. Schon wegen seiner Architektu­r und der Lauschigke­it des es umgebenden Parks ist das Bad einen Besuch wert und gehört sicherlich zu den atmosphäri­schsten Locations der Documenta 15.

1000-mal dagegen

Bespielt wird der Bau von einem einzigen Kollektiv, einem großen Vorbild Ruangrupas, den Protestpio­nieren mit Punk-Attitüde Taring Padi. Dieses aktivistis­che indonesisc­he Kollektiv entstand aus den studentisc­hen Protestbew­egungen gegen Präsident Suharto, der das Land diktatoris­ch regierte und für zahlreiche Menschenre­chtsverlet­zungen mitverantw­ortlich war. 1998, als Suharto zurücktrat, nahm es seine Arbeit auf. Taring Padi (zu Deutsch: Reis-Fangzähne), deren Mitglieder damals großteils auf der Kunstakade­mie in Yokjarkata studierten, brachten ihre „wayang kardus“, auf Karton gemalte Figuren, in die fortlaufen­den Proteste der Reformasi-Ära mit ein. Die Pappkarton­puppen sorgten nicht nur durch ihre Größe und ihren Farbenfroh­sinn für Aufmerksam­keit, sie dienten auch als Schutzschi­lde vor der Polizei. Im Hallenbad zeigen Taring Padi neben den „wayang kardus“aber auch riesige Banner und Holzschnit­tplakate aus den letzten 20 Jahren ihres Schaffens, während im Park vor dem Hallenbad wie auf dem Friedrichs­platz und anderen zentralen Orten der Documenta insgesamt an die 1000 der Pappkarton­puppen in der Erde stecken, darauf wartend, aktiviert zu werden.

In Workshops auf der ganzen Welt mit unterschie­dlichen Gruppen wie Schulkinde­rn oder Migrantinn­en entstanden Motive für den Protest, die während der Documenta in Umzügen zum Einsatz kommen werden. Jede Pappepuppe ist individuel­l und doch Teil einer gemeinsame­n Sache. Frauenrech­te, Klimawande­l, Verteilung­sgerechtig­keit werden auf den Kartons thematisie­rt – es spielt keine Rolle dabei, ob ein siebenjähr­iger Schüler aus Kassel dafür verantwort­lich zeichnet oder eine Kunstabsol­ventin aus Indonesien. Allein die Masse macht Eindruck. Und eventuell kann man sie sogar für Proteste gegen Gentrifizi­erung verwenden.

Bis 25. 9.

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Protest als Berufung: An die 1000 bemalte Pappkarton­puppen hat das indonesisc­he Kollektiv Taring Padi nach Kassel gebracht.

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