Beitrittskandidaten als Risikofaktor
Die EU gibt für Ukraine und Moldau bisherige Regeln in der Erweiterungspolitik auf
Dass die EU-Kommission der Ukraine Kandidatenstatus zum EUBeitritt verlieh, kann niemanden überraschen. Die Entscheidung war mit den Regierungen der Mitgliedsstaaten informell lange abgestimmt worden. Formal gesehen ist es nur ein Vorschlag, der von den Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel nächste Woche erst noch bestätigt werden muss. Dazu braucht es Einstimmigkeit, wie immer bei Erweiterung, Außen- und Sicherheitspolitik.
Es wird nationale Einwände und Bedingungen geben – auch von Österreich. Die Formel, dass die Ukraine trotz russischer Teilbesetzung „Teil der europäischen Familie“ist, ohne dass sie die in den EU-Verträgen verankerten Bedingungen erfüllt, scheint fix.
Präsidentin Ursula von der Leyen hat nur verkündet, was die Vertreter der mächtigsten Mitglieder, Deutschland, Frankreich und Italien, bei einer Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew vorgaben. Im Vernichtungskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen das Land muss die EU ohne großes Wenn und Aber hinter der Ukraine stehen. Einwände sind unerwünscht, auch wenn EU- wie Nato-Beitritte vor ein paar Monaten generell noch als Tabu galten.
Status quo statt Neupositionierung könnte der Diktator im Kreml missverstehen und mit seinen Feldzügen in Ost- und Ostmitteleuropa weitermachen: heute Ukraine, morgen Moldau, übermorgen Baltikum und Polen.
Die EU-Saaten ziehen also eine rote Linie: mit Beitrittsperspektiven statt Militärintervention. Die Privilegierung der Ukraine hat hohen symbolischen Wert, auch wenn der reale EU-Beitritt „Jahre und Jahrzehnte“dauern wird, wie Präsident Emmanuel Macron sagt. Ob einzelne Paragrafen und Regeln des „normalen“Beitrittsprozesses eingehalten werden, spielt eine untergeordnete Rolle.
Die Entscheidung ist sicherheitspolitisch von großer Tragweite und nicht ohne Risiko, weil sie den Konflikt zwischen EU und Russland befeuert. Die EU steckt in einem Dilemma. Erstmals seit 30 Jahren bringt der Beitrittswunsch eines Landes keine Win-win-Situation, sondern hat einen Preis. Macron, Kanzler Olaf Scholz und Italiens Mario Draghi waren bisher vorsichtig, anders als die Balten oder Polen. Das haben sie zurückgestellt. Die offensive Hereinnahme der Ukraine in die EU als Schutzraum soll Putin zum Umdenken bewegen, so die Hoffnung. Gleiches gilt für die Republik Moldau, das ärmste Land Europas, nun auch EU-Kandidat. Putin droht offen, dort einzumarschieren. Die EU hält dagegen. Für Georgien (wo Teile von russischen Truppen besetzt wurden) gilt das nicht.
Bisher galt, dass EU-Kandidat nur ein Land sein kann, welches eine gefestigte Demokratie und eine unabhängige Justiz hat, dazu eine Marktwirtschaft, die im EU-Binnenmarkt bestehen kann, und welches in der Lage ist, die Regeln in den
EU-Verträgen umzusetzen. Auf die Ukraine als Land im Kriegszustand und mit ungesichertem Territorium trifft das nicht zu. Grundsätze wurden aufgegeben. Eine geteilte Ukraine in die EU aufzunehmen, das wäre schwierig, wäre mit den regulären Mitteln im EU-Budget unmöglich.
Solche Einwände zählen im Moment wenig. Der Krieg ändert alles, stellt alles infrage, auch die bisherige EU-Erweiterungsstrategie. Das bedeutet naturgemäß, dass die Union sich im Inneren deutlich verändern, festigen wird müssen. Die offensive Hinwendung zur Ukraine erhöht den Druck.