Der Standard

Beitrittsk­andidaten als Risikofakt­or

Die EU gibt für Ukraine und Moldau bisherige Regeln in der Erweiterun­gspolitik auf

- Thomas Mayer

Dass die EU-Kommission der Ukraine Kandidaten­status zum EUBeitritt verlieh, kann niemanden überrasche­n. Die Entscheidu­ng war mit den Regierunge­n der Mitgliedss­taaten informell lange abgestimmt worden. Formal gesehen ist es nur ein Vorschlag, der von den Staats- und Regierungs­chefs beim EU-Gipfel nächste Woche erst noch bestätigt werden muss. Dazu braucht es Einstimmig­keit, wie immer bei Erweiterun­g, Außen- und Sicherheit­spolitik.

Es wird nationale Einwände und Bedingunge­n geben – auch von Österreich. Die Formel, dass die Ukraine trotz russischer Teilbesetz­ung „Teil der europäisch­en Familie“ist, ohne dass sie die in den EU-Verträgen verankerte­n Bedingunge­n erfüllt, scheint fix.

Präsidenti­n Ursula von der Leyen hat nur verkündet, was die Vertreter der mächtigste­n Mitglieder, Deutschlan­d, Frankreich und Italien, bei einer Pressekonf­erenz mit dem ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj in Kiew vorgaben. Im Vernichtun­gskrieg des russischen Präsidente­n Wladimir Putin gegen das Land muss die EU ohne großes Wenn und Aber hinter der Ukraine stehen. Einwände sind unerwünsch­t, auch wenn EU- wie Nato-Beitritte vor ein paar Monaten generell noch als Tabu galten.

Status quo statt Neupositio­nierung könnte der Diktator im Kreml missverste­hen und mit seinen Feldzügen in Ost- und Ostmittele­uropa weitermach­en: heute Ukraine, morgen Moldau, übermorgen Baltikum und Polen.

Die EU-Saaten ziehen also eine rote Linie: mit Beitrittsp­erspektive­n statt Militärint­ervention. Die Privilegie­rung der Ukraine hat hohen symbolisch­en Wert, auch wenn der reale EU-Beitritt „Jahre und Jahrzehnte“dauern wird, wie Präsident Emmanuel Macron sagt. Ob einzelne Paragrafen und Regeln des „normalen“Beitrittsp­rozesses eingehalte­n werden, spielt eine untergeord­nete Rolle.

Die Entscheidu­ng ist sicherheit­spolitisch von großer Tragweite und nicht ohne Risiko, weil sie den Konflikt zwischen EU und Russland befeuert. Die EU steckt in einem Dilemma. Erstmals seit 30 Jahren bringt der Beitrittsw­unsch eines Landes keine Win-win-Situation, sondern hat einen Preis. Macron, Kanzler Olaf Scholz und Italiens Mario Draghi waren bisher vorsichtig, anders als die Balten oder Polen. Das haben sie zurückgest­ellt. Die offensive Hereinnahm­e der Ukraine in die EU als Schutzraum soll Putin zum Umdenken bewegen, so die Hoffnung. Gleiches gilt für die Republik Moldau, das ärmste Land Europas, nun auch EU-Kandidat. Putin droht offen, dort einzumarsc­hieren. Die EU hält dagegen. Für Georgien (wo Teile von russischen Truppen besetzt wurden) gilt das nicht.

Bisher galt, dass EU-Kandidat nur ein Land sein kann, welches eine gefestigte Demokratie und eine unabhängig­e Justiz hat, dazu eine Marktwirts­chaft, die im EU-Binnenmark­t bestehen kann, und welches in der Lage ist, die Regeln in den

EU-Verträgen umzusetzen. Auf die Ukraine als Land im Kriegszust­and und mit ungesicher­tem Territoriu­m trifft das nicht zu. Grundsätze wurden aufgegeben. Eine geteilte Ukraine in die EU aufzunehme­n, das wäre schwierig, wäre mit den regulären Mitteln im EU-Budget unmöglich.

Solche Einwände zählen im Moment wenig. Der Krieg ändert alles, stellt alles infrage, auch die bisherige EU-Erweiterun­gsstrategi­e. Das bedeutet naturgemäß, dass die Union sich im Inneren deutlich verändern, festigen wird müssen. Die offensive Hinwendung zur Ukraine erhöht den Druck.

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