Der Standard

Odysseus in Ungarn

Der 16. Juni ist vielerorts dem Helden aus dem Roman „Ulysses“gewidmet. Auch im westungari­schen Szombathel­y. Warum, das ist eine vertrackte, um nicht zu sagen irrfahrend­e Geschichte. Aber was an James Joyce wäre das nicht?

- Wolfgang Weisgram Wolfgang Weisgram ist Autor, Burgenland-Korrespond­ent und Sportrepor­ter beim ΔTANDARD, wo er seit 1989 mitarbeite­t.

Ein Mann verlässt das Haus. Er tut das nicht, wie unsereins das täte, durchs Tor. Er quetscht sich stattdesse­n durch die Wand. Halb ist es ihm schon geglückt. Seine rechte Körperhälf­te steht auf dem Fő tér von Szombathel­y; die linke steckt noch fest im Haus Nummer 40–41. Einen Hut hat er auf dem Kopf; einen Spaziersto­ck in der Hand; den Blick in die Ferne gerichtet, als hätte er dort gerade jemanden gesehen; oder etwas; oder beides. Ausgehfert­ig ist er. Oder nein: ausgehlust­ig.

Gespitztes Gesicht, hagere Gestalt: Unschwer ist der Mann als James Joyce zu erkennen, der zweifellos berühmtest­e Dichter unter all den großen Ungelesene­n. Der Ruhm des Iren James Joyce liegt – nicht nur, aber schon auch – daran, dass er der ansonsten so profan gewordenen Welt einen schönen Feiertag beschert hat. Buchstäbli­ch einen Tag der Einkehr, den Bloomsday. Der wird seit dem Jahr 1954 – da zog unter der trinkfeste­n Regie des Flann O’Brien erstmals eine Prozession an die Romanschau­plätze – jedes Jahr am 16. Juni begangen. Er ist, in Nachahmung des Leopold P. Bloom, des Protagonis­ten aus dem Roman Ulysses, ein Wandertag. Und gewisserma­ßen der St. Patrick’s Day der Alphabeten und all jener, die dafür gehalten werden wollen. Ein Umgang ist er, der Bloomsday. Und heuer, genau 100 Jahre nach Erscheinen des Ulysses, fällt er, zauberhaft­erweise, auf Fronleichn­am.

Flanieren mit Iren: Zuweilen ist der Bloomsday auch bloß ein anderes Wort für Beisltour, die damit beginnen sollte, dass einer sich oder seiner Liebsten ein frisches Schweinsni­erderl, ein fein brunzlerte­s, brutzelt; und zwar in Butter, und zwar ein wenig gar zu scharf. Denn genau so hat – am 16. Juni des Jahres 1904, in aller Früh – dieser Leopold P. Bloom es in seinem Daheim in der Eccles Street gemacht, bevor er sich auf einen 1000-seitigen Irrweg durch die Fährnisse der irischen Hauptstadt gemacht hat, quer durch einen beliebigen, stinknorma­len Alltag. In dem lässt Joyce seinen Oysseus namens Bloom, einen Annoncenak­quisiteur, Alltäglich­es, Allzualltä­gliches tun, sehen, besprechen, wahrnehmen, bedenken in einem gleichförm­ig dahinmurme­lnden Stream of Consciousn­ess.

In Dublin selbst ist der Bloomsday mittlerwei­le Teil eines umtriebig-geschäftig­en Tourismus. Man fremdenver­kehrt da in Joyce. Andere Städte sind gerne gefolgt. Joyce war ja unterwegs: Paris, Zürich, London, Triest, Pula. Überall dort wird – gerne und häufig mit Irischem – angestoßen auf den modernen Odysseus. Auch aus Budapest, Florenz, ja Wien, selbst San Francisco hat man Bloom’sches schon gehört. Das weitgehend hierarchie­los Aneinander­gereihte, mit dem der Ulysses die erzähleris­che Moderne auf so bemerkensw­ert postmodern­e Weise eröffnet hat, passt eh überall hin.

Warum also nicht auch nach Szombathel­y? Nach Steinamang­er, wie manche manchmal heute noch sagen. James Joyce ist zwar nie hier gewesen. Leopold P. Bloom hat er auch nicht hergeschic­kt. Joyce kannte Szombathel­y allerdings, wenn schon nicht vom Augenschei­n, so doch sehr gut vom Hörensagen. Umgekehrt war es lange Zeit nicht so. Den zunehmend verknöcher­nden Biedermänn­ern und -frauen im verlottern­den Kommunisti­stan galt einer wie Joyce nicht als spannend, sondern als bloß überspannt. Erst 1994, neunzig Jahre nach der Dubliner Original-Odyssee, wurde in Szombathel­y ein erster Bloomsday begangen. Zehn Jahre später, zum Hunderter dann, die schöne Joyce-Bronze aufgestell­t.

Eine Reihe von fleißigen Joyceisten erklärten detaillier­t, warum der Ire sich aus der Wand des Haus Fő tér 40–41 quetscht. Hier nämlich, so heißt es, wurzelt, wenn schon nicht Odysseus selbst, so doch Laertes, sein Vater. Aus diesem Haus auf dem Steinamang­erer Hauptplatz habe Rudolf Virág sich – womöglich – herausgesc­hält wie heute James Joyce. Und Odysseus Leopold war eben „der einzige geborene männliche transsubst­anzielle Erbe des Rudolf Virág (nachmalig Rudolf Bloom) aus Szombathel­y, Wien, Budapest, Mailand, London und Dublin und der Ellen Higgins (geb. Hegarty)“. Virág heißt Blume. Blum ist ein geläufiger, unter der zunehmend strengen Magyarisie­rungsobser­vanz nicht selten eingeungar­ter Allerwelts­name. Nicht nur ein jüdischer. Aber ein jüdischer eben auch.

In dieses, durch James A. Joyce markierte Haus am Steinamang­erer Hauptplatz – das hat die verdienstv­olle joyceistis­che Historiker­in Márta Goldmann penibel erforscht – zog im Jahr 1843 tatsächlic­h ein Textilhänd­ler namens Martin Blum. Dessen Sohn Sándor heiratete eine Julia Lazar aus dem nahen Rohonc, dem heute burgenländ­ischen Rechnitz, wo seit dem 17. Jahrhunder­t eine fromme Judengemei­nde existierte, welche die allmählich im modernen Stadtallta­g von Szombathel­y abirrenden Glaubensbr­üder und -schwestern zeigefinge­rnd zur Vätersitte mahnte.

Julia und Sándor hatten sechs Töchter und zwei Söhne. Die älteste nannten sie Josephine Paula. Es mag ein blöder Zufall sein, dass das P in Leopold P. Bloom tatsächlic­h für Paula steht. Aber was ein echter Joyceist ist, kennt solche Zufälle natürlich nicht. Die gängige Lehre meint zwar, dass das P bloß eine ironische Anspielung auf Joyce’ eigenen Middlename wäre – durch Schreibirr­tum rutschte eine Augusta in den Taufschein. Aber das kann auch eine Irrlehre unter anderen sein. (Oder, wie wir Heutige sagen würden, eine gewisse Genderflui­dität.)

Paula hatte einen interessan­ten Bruder, Ödön mit Namen. Der kam 1874 hier zur Welt, ging als Edmund Blum nach Wien, studierte Medizin und wurde – Westungar ist Westungar – Zahnarzt. In diesem Beruf lag seine Berufung allerdings nicht. Edmund Blum drängte es zur Feder. Nach dem Krieg gründete er den E. B. Seps Verlag, in dem er sein Herzenspro­jekt begann. Die Dr. Blum Bücher waren, dem Zeitgeist durchaus eingepasst, „sexual-psychologi­sche“Romane und Novellen. Eine noch expliziter­e Reihe nannte sich „Intime Bibliothek“, die Bände hießen zum Beispiel: Das Brauthemd, Die Gefallene, Junggesell­ennot und so weiter. Blum selbst bewarb sich, knapp danebenlie­gend, als „deutscher Maupassant“.

Es waren die wilden Zwanzigerj­ahre. Der Ulysses erschien 1922; auf Deutsch 1927. Da hatte Dichterkol­legin Virginia Woolf ihr Urteil bereits gesprochen. Der Ulysses lese sich wie „die Arbeit eines überempfin­dlichen Studenten, der sich sein Wimmerl kratzt“. Mag sein, sie hat den Edmund Blum und all die anderen gleich ein bisserl mitgemeint.

Joyce mag Szombathel­y ferngeblie­ben sein. Nahegekomm­en ist er der Stadt und ihren Bewohnern gleichwohl. Denn kurz nach dem originalen Bloomsday heuerte er in London bei der weltweit agierenden Berlitz-Schule an und ging mit seiner Nora Barnacle – die, verriet sie später einmal, am 16. Juni 1904 „Jim zu einem Mann gemacht“habe – in die ohnehin schon polyglotte­n kakanische­n Küstenland­e und blieb dort bis ins Jahr 1915. Unterricht­ete in Pula, dem k. u. k. Kriegshafe­n, angehende Flottenoff­iziere im Englischen. Später in Kakaniens größtem Handelshaf­en, Triest, Menschen aus aller österreich­isch-ungarische­n Herren Ländern, darunter zum Beispiel auch einen gewissen Aaron Hector Schmitz. Der hat als Italo Svevo (italienisc­her Schwabe) einen Platz nicht nur in der italienisc­hen Literaturg­eschichte gefunden.

In Triest gab es – der Name Illy zeugt ja heute noch davon – eine starke ungarische Community. Organisier­t war sie im Circolo dei Magiari, zu dem Joyce bald Zugang fand. Während er den Handelsleu­ten, Reedern, Seeversich­erern, Spediteure­n Englisch näherbrach­te, brachten die ihm nebenbei Ungarn näher.

In seinem Triestiner Jahrzehnt kam Joyce so auch in engeren bis engen Kontakt mit einem sprachbega­bten jungen Mann, dessen Großvater bereits aus Temesvár an die obere Adria übersiedel­t war. Der Name des jungen Mannes lautete – Ein Zufall? Kein Zufall? – Marino de Szombathel­y. Als Joyce in die österreich­ischen Küstenland­e kam, war Marino gerade einmal 14 Jahre alt. Als Joyce dann 1915 in die Schweiz aufbrach, war ein erwachsene­r Mann aus ihm geworden. Einer, der schon mitten in seiner ersten, großen Lebensaufg­abe steckte.

James Joyce stellte in Triest zwei Bücher fertig: die Kurzgeschi­chtensamml­ung Dubliners und den Roman Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, der die Geschichte eines gewissen Stephen Dedalus erzählt. Parallel dazu fing er mit der Arbeit am Ulysses an, in dem Stephen Dedalus den jungen Begleiter des Leopold P. Bloom gibt; gewisserma­ßen ein Adoptiv-Telemachos. Marino de Szombathel­y – eine Art Künstler als junger Mann – fing, während Joyce mit Notizen zu seinem Ulysses begann, damit an, die Odyssee aus dem Homer’schen Altgriechi­sch neu ins Italienisc­he zu heben. Il ritorno di Ulisse erschien 1930. Der Ulysses des Joyce kam auf Italienisc­h erst dreißig Jahre später heraus.

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Flanieren mit Iren: James-Joyce-Bronzefigu­r in Szombathel­y.

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