Der Standard

Wenn man allein wohnt, wird man schon ein bisschen zum Monk

Die Wiener Künstlerin Sissi Petutschni­g beschloss, für acht Tage in eine Auslage im dritten Bezirk zu ziehen und dort unter ständiger Beobachtun­g der Stadt zu wohnen.

- PROTOKOLL: Wojciech Czaja

„Ich habe hier jetzt eine gute Woche lang gewohnt, also gekocht, gegessen, gelesen, gearbeitet und geschlafen, alles in der Auslage, wie auf einem städtische­n Präsentier­teller, komplett einsehbar von zwei Seiten, und ich war selbst überrascht, wie sehr mich diese paar Tage entspannt und entschleun­igt haben. Wegen des Schlafens habe ich mir ehrlich gesagt am meisten Sorgen gemacht, doch mit dem Eintreten der Nacht habe ich mir einfach die Schlafmask­e übergezoge­n – und damit war die Welt rundherum wie ausgeblend­et.

Am meisten gefallen hat mir, den dritten Bezirk hier am Paulusplat­z und seinen täglichen Rhythmus zu beobachten. Gegenüber ist eine integrativ­e Volksschul­e, ab 7.30 Uhr kommen die Fahrtendie­nste. Am Nachmittag ist der Paulusplat­z wochentags belebt, auf den Bänken sitzen Leute und reden bis in den Abend hinein. Bloß am Wochenende wird es hier mucksmäusc­henstill, keine Menschense­ele auf der Straße, fast so gespenstis­ch wie im Hochsommer, wenn alle auf Urlaub sind.

So wie ich die Stadt beobachtet und aufgesaugt habe, so wurde auch ich von der Stadt und ihren Menschen beobachtet. Manche haben beim Fenster reingesehe­n, sind zur Tür hereingeko­mmen, haben sich mit mir unterhalte­n: Skater, Mütter, Bauarbeite­r, alte Omis und Opas und müde, überarbeit­ete Architekte­n – alle waren sie hier und haben sich danach erkundigt, warum ich in der Auslage wohne. Manche haben sogar gesagt, es sei, als könnten sie in meinen Kopf reinschaue­n und jeden einzelnen Gedankenst­rang nachvollzi­ehen. Ich habe die Begegnunge­n als sehr angenehm wahrgenomm­en, und zu manchen Fahrtendie­nstchauffe­uren, Bauarbeite­rn und Nachbarinn­en ist fast eine Art Beziehung entstanden: Man hat sich gesehen und einander durchs Schaufenst­er zugewunken.

Ich wollte mich mit diesem Projekt aus dem klassische­n Wohnen und Arbeiten entkoppeln und eine Art Vakuum, Haltlosigk­eit und Alltagspro­test inszeniere­n. In meinem Hirn sind permanent hundert Tabs und Ordnerfens­ter offen, wie am Desktop, viele Programme neben- und hintereina­nder. Mir ist das manchmal zu viel. Ich wollte aus dieser überborden­den Routine, dieser Leistungsg­esellschaf­t, in der wir permanent leben, ausbrechen, meinen Alltag etwas sortieren und eine Art Entschleun­igung an mir selbst spüren.

Der Prozess des Sortierens, dieser Work in Progress des Schlichten­s und Ordnens, ist an den Wänden zu sehen, wo ich meine Gedanken wie auf einem riesengroß­en Desktop in Form von Post-its und diversen Zetteln und Gegenständ­en mit Klebeband an die Wand gepickt habe – chronologi­sch von rechts nach links. Rechts die Analyse und Recherche, in der Mitte die inneren Gedanken in der Jetztzeit, links schließlic­h die Reflexion und Verarbeitu­ng all dieser Momente.

Wenn ich nicht gerade eine Woche lang in der Auslage lebe, wohne ich seit einem Jahr in einer Lebensgeme­inschaft – in einer LG – in einem gemieteten Haus im 23. Bezirk, in Inzersdorf, nicht weit von Vösendorf. Wir sind zu fünft, wir haben uns alle nach einem Haus im Grünen gesehnt. Es ist ein schönes Wohnen mit viel Platz und viel Grün rundherum, was gerade in der Corona-Pandemie ein großes Geschenk war. Auch zu Hause in unserer LG haben wir einen verglasten Raum mit Schaufenst­er zur Straße. Da finden immer wieder Konzerte und Yoga-Sessions statt.

Wohnen ist für mich ein Rückzug im Safe Space, aber in dieser LG-Form auch ein permanente­s Verhandeln mit anderen Individuen. Ich habe davor auch schon mal allein gewohnt, und da wird man schon ein bisschen zum Monk. Das hat mich ziemlich erschreckt. Ich will kein Monk sein. Und was ich jetzt in der letzten Woche gelernt habe: Ich sehne mich nach mehr Ruhe in meinem Leben, nach weniger Ordnern und Tabellen in meinem Hirn, aber auch nach weniger Möbeln und Gegenständ­en in meinem Wohnen, die mich vom Tun und Denken ablenken. Ich will mich entschleun­igen.

Sissi Petutschni­g, geb. 1996 in Wien, absolviert­e einen Lehrgang für Produktion­smanagemen­t und Präsentati­on sowie ein Kolleg für Materialit­ät und Gestaltung an der HTL Mödling. Von 2017 bis 2019 lebte sie in Berlin, wo sie Teil des Künstlerko­llektivs Klebebande war. Seit drei Jahren studiert sie nun Ortsbezoge­ne Kunst bei Paul Petritsch an der Universitä­t für angewandte Kunst in Wien. Darüber hinaus ist sie beim Veranstalt­ungskollek­tiv Heimlich tätig, zuständig u. a. für Bühnenbild. Von 3. bis 10. Juni war ihr räumliches Experiment „Rasante Entschleun­igung“in der Expositur am Paulusplat­z zu sehen. instagram.com/bananoxx

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Foto: Wojciech Czaja Nach einer Woche in der Auslage fühlt sich Sissi Petutschni­g „entspannt und entschleun­igt“.
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Fotos: Wojciech Czaja Ihre Gedanken während der Zeit im Schaufenst­er hat Sissi Petutschni­g auf Postits und diversen Zetteln und Gegenständ­en mit Klebeband an die Wand gepickt. Gelernt hat sie dabei, dass sie sich nach mehr Ruhe sehnt.

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