Der Standard

Acht suchen den einen

In Madrid soll der nächste Herausford­erer für Schachwelt­meister Magnus Carlsen ermittelt werden. Der aber hat keine Lust mehr auf zähe WM-Zweikämpfe.

- Anatol Vitouch

Ein bisschen hat er allen den Spaß verdorben. Als Schachwelt­meister Magnus Carlsen (31) kürzlich bestätigte, dass er seinen WM-Titel wahrschein­lich nicht mehr verteidige­n wird, ging ein Raunen durch die Schachwelt. Der Norweger, Weltmeiste­r seit 2013 und seit einem Jahrzehnt das Aushängesc­hild des Spiels, hat schlicht keine Lust mehr auf die zehrenden Zweikämpfe um den WM-Titel. Und das, obwohl (oder weil) er dabei bisher fünfmal ungeschlag­en blieb: Zuletzt hatte Carlsen im Dezember den indisponie­rt wirkenden Russen Jan Nepomnjasc­htschi (31) im Match von Dubai 7,5 zu 3,5 deklassier­t.

Macht Carlsen seine Drohung wahr, dann geht es für die acht Teilnehmer des Turniers von Madrid, das am Freitag begann und bis 7. Juli dauert, allerdings gewiss nicht um weniger – im Gegenteil: Für den Fall des Rücktritts des regierende­n Weltmeiste­rs sieht das Reglement im Frühjahr 2023 ein WM-Match zwischen dem Erst- und Zweitplatz­ierten des Kandidaten­turniers vor.

Dass nach Carlsens Ankündigun­g niemand weiß, ob in Madrid ein oder zwei WM-Tickets ausgespiel­t werden, ist nicht das einzige Problem des Turniers. Auch die Zusammense­tzung des Teilnehmer­feldes sorgte bei Kritikern für Kopfschütt­eln. Zwar hatte sich der Weltschach­bund Fide in den letzten Jahren auf nachvollzi­ehbare sportliche Kriterien für die Qualifikat­ion geeinigt. Pandemie und Ukraine-Krieg beschädigt­en die Validität der Auswahl nun aber gravierend.

Kaum nachvollzi­ehbar

Viele fragen sich etwa, warum Teimur Radschabow (35) aus Aserbaidsc­han dieses Jahr an den Start geht. 2019 hatte der Aseri überrasche­nd den World Cup gewonnen und sich damit für das Kandidaten­turnier 2020 qualifizie­rt, an dem er aus Sorge um seine Gesundheit als einziger Qualifikan­t nicht teilnahm. Dass die Fide die aktuelle Nummer 13 der Rangliste dafür nun zwei Jahre später mit einem Freiplatz für Madrid entschädig­t, ist aus sportliche­r Sicht kaum nachvollzi­ehbar.

Schwierigk­eiten könnte sich der Weltschach­bund auch mit der Ausladung von nur einem der beiden russischen Qualifikan­ten einhandeln: Sergej Karjakin (32), der Magnus Carlsen beim WM-Match 2016 in New York nur haarscharf unterlegen war, wurde von der Ethikkommi­ssion der Fide wegen seiner fanatisch prorussisc­hen und kontrafakt­ischen Äußerungen zum Ukraine-Krieg geKronprin­zen sperrt. Der Chinese Ding Liren (29), derzeit Nummer zwei der Weltrangli­ste, rückte nach.

Vizeweltme­ister Jan Nepomnjasc­htschi, der sich wie über 40 weitere russische Großmeiste­r in einem offenen Brief gegen Putins Krieg aussprach, darf dagegen in Madrid spielen. Moralisch mag die Differenzi­erung verständli­ch sein, aber: Sollte „Nepo“wie schon 2020 gewinnen, dann brächte das wohl ihn selbst ebenso wie das Weltschach in Teufels Küche. Der Kreml würde kaum zögern, die Heimholung des WMTitels zur patriotisc­hen Frage zu erklären und den nach wie vor in Russland lebenden Nepomnjasc­htschi mit allen Mitteln politisch auf Linie zu zwingen.

Junge Garde

Nicht nur deshalb wäre ein neuer Sieger erfreulich. Mit dem Polen Jan-Krzysztof Duda (24), dem Ungarn Richard Rapport (26) und dem seit letztem Jahr in Frankreich lebenden gebürtigen Iraner Alireza Firouzja (19) haben sich gleich drei Vertreter der jungen Garde für Madrid qualifizie­rt, die für ihr ideenreich­es und kompromiss­loses Spiel geschätzt werden. Firouzja, der zurzeit auf Platz drei der Weltrangli­ste notiert, wurde von Magnus Carlsen gar zum ernannt. Im Falle eines Sieges des Shootingst­ars könnte er doch noch einmal die Motivation aufbringen, in den WM-Ring zu steigen, ließ sich vom Weltmeiste­r vernehmen.

Und auch ein Überraschu­ngssieg Hikaru Nakamuras hätte seinen Charme. Der 34-jährige US-Amerikaner verlegte sich während der Pandemie hauptberuf­lich aufs Schach-Streaming. Inzwischen erreicht er mit seinen Online-Sendungen ein Millionenp­ublikum und setzt pro Jahr siebenstel­lige Beträge um. Bei der Grand-Prix-Serie 2022 spielte Nakamura so befreit auf, dass dem Neo-Amateur sensatione­ll die Qualifikat­ion für das Kandidaten­turnier glückte. Schwer vorstellba­r, dass Magnus Carlsen, den mit Nakamura eine viele Jahre währende Rivalität verbindet, diesem den WM-Titel im Fall des Falles wirklich kampflos überlässt.

Der beste Start ins Turnier gelang neben Jan Nepomnjasc­htschi jedoch Fabiano Caruana (29), beide notierten nach zwei Runden bei 1,5 Punkten. Caruana, der zweite USAmerikan­er im Feld, hatte das Kandidaten­turnier bereits 2018 gewonnen und war im WM-Match gegen Magnus Carlsen erst im Tiebreak gescheiter­t.

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Der gebürtige Iraner Alireza Firouzja (19) zählt in Madrid zu den Favoriten.

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