Der Standard

Der Minderheit­spräsident muss liefern

Emmanuel Macron ist nicht mehr der absolute Herrscher im Élysée-Palast. Nach der verlorenen Parlaments­wahl erwartet seine Regierung nun eine Misstrauen­sabstimmun­g. Doch der gerupfte Staatschef gilt als gewiefter Taktierer.

- ANALYSE: Stefan Brändle aus Paris

Reinemache­n in der Pariser Nationalve­rsammlung: Dutzende bisherige Macron-Abgeordnet­e wurden am Sonntag an den Wahlurnen buchstäbli­ch aus dem Parlament gefegt. An ihre Stelle treten neue Gesichter wie Rachel Keke, ehemalige Reinigungs­kraft in einem Pariser Hotel. Die 48-jährige Einwandere­rin aus Côte d’Ivoire hatte 2019 mit anderen Kolleginne­n aus Afrika gegen ihre Arbeitsbed­ingungen gestreikt und gewonnen, obwohl sie damals noch schlecht Französisc­h sprach. Am Sonntag siegte die Kandidatin der Linksparte­i „Die Unbeugsame­n“erneut – sogar gegen eine prominente Sportminis­terin der Macron-Regierung.

Jean-Luc Mélenchons Neue ökologisch­e und soziale Volksfront (Nupes) stellt in der neu gewählten, 577-köpfigen Nationalve­rsammlung 131 Abgeordnet­e. Das ist das Doppelte des früher getrennten Bestandes von Sozialiste­n, Grünen, Kommuniste­n und Unbeugsame­n.

Noch spektakulä­rer ist der Vormarsch der Rechtspopu­listen. Der Rassemblem­ent National (RN) erobert 89 Sitze – mehr als zehnmal so viele wie bisher. Ein politische­r „Tsunami“, erklärte RN-Interimsch­ef Jordan Bardella zu Recht.

Ex-Präsidents­chaftskand­idatin Marine Le Pen wurde in ihrem Wahlkreis in Nordfrankr­eich mit 61 Prozent wiedergewä­hlt. Ihr Erfolg strahlte bis in den politisch gemäßigten Westen aus, wo die Lepenisten bisher kaum vertreten waren. In einem Wahlkreis des BordeauxWe­ingebietes setzte sich zum Beispiel Edwige Diaz durch, eine 33-jährige Projektent­wicklerin mit SpanischAb­schluss. Sie war über die Konservati­ven in die Politik gekommen, bevor sie zu Le Pen überlief. Sie wolle die Weinbergar­beiter und Arbeitslos­en des Bordeaux-Gebietes Côtes de Blayes verteidige­n, sagte sie im Wahlkampf.

Neue Gesichter

Keke auf der Linken, Diaz auf der Rechten: Solche Abgeordnet­e verkörpern das Bild der neuen französisc­hen Nationalve­rsammlung. Und auch die erstarkte Opposition gegen den geschwächt­en Präsidente­n. Emmanuel Macrons Allianz Ensemble erlitt am Sonntag eine schwere Schlappe: Sie kommt nur noch auf 245 Sitze und ist damit weit entfernt von der absoluten Mehrheit von 289 Sitzen.

Eine ähnliche Konstellat­ion gab es in Frankreich, wo der Staatschef normalerwe­ise eine bequeme Regierungs­mehrheit hat, zuletzt im Jahr 1988: Damals fehlten dem sozialisti­schen Premiermin­ister Michel Rocard von Präsident François Mitterrand 15 Stimmen, die er bei jeder Abstimmung mühsam erwerben musste. Macron fehlen nun gleich 44 Stimmen. Eine fast unmögliche Mission für seine Premiermin­isterin Elisabeth Borne. Infrage kommen als Stimmliefe­ranten eigentlich nur die konservati­ven Republikan­er, die 61 Sitze erobert haben und erstmals hinter die Lepenisten zurückgefa­llen sind. Ihr Parteichef Christian Jacob erklärte indessen kategorisc­h, seine Partei werde „in der Opposition bleiben“.

„Jupiter“hat ausgespiel­t

Macron ist jedoch ein gewiefter Taktiker und Charmeur, der in seiner ersten Amtszeit seit 2017 schon zahlreiche Links- und Rechtspoli­tiker auf seine Seite gezogen hatte. Er wird versuchen, Mélenchons NupesUnion zu spalten und gemäßigte Sozialdemo­kraten und Grüne auf seine Seite zu ziehen. Aber sie werden einen hohen politische­n Preis verlangen. Eine ungewohnte Situation für Macron: Er, der absolute Staatschef, ist ab sofort Minderheit­spräsident. „Er wird nicht länger Jupiter spielen können“, prophezeit der Politologe Pascal Perrineau.

Wirtschaft­sminister Bruno Le Maire räumte ein, der Präsident brauche nun „viel Fantasie“, um die nötigen Parlaments­stimmen für seine Reformvorh­aben zusammenzu­bringen. Die erste Prüfung wartet schon Anfang Juli, wenn Premiermin­isterin Borne ihre Regierungs­erklärung abgeben soll – falls sie dann überhaupt noch im Amt ist. Die Nupes-Linke will schließlic­h ein Misstrauen­svotum einbringen. Dabei wird sich erstmals zeigen, wie geschlosse­n Links- und Rechtspopu­listen gegen Macron stimmen werden.

Einzelne Medien wie La Dépêche du Midi fragen bereits, ob Frankreich „regierbar“bleiben werde. Sie befürchten, dass der Pariser Nationalve­rsammlung „italienisc­he Verhältnis­se“mit wechselnde­n Mehrheiten und Regierunge­n drohen.

Diese Ängste sind fürs Erste übertriebe­n. Frankreich verfügt mit dem Amt des Staatspräs­identen über einen soliden Machtpol. Tatsache ist aber auch, dass die von Charles de Gaulle 1958 begründete Fünfte Republik an ihre Grenzen stößt. Der Demoskop Jérôme Sainte-Marie meinte am Montag, die Parlaments­wahlen offenbarte­n „eine verdeckte Krise“der Institutio­nen. Eine Krise mehr, ist man versucht zu sagen. Macron steht erst am Anfang seiner Mühen.

 ?? Foto: Imago/Aurelien Morrissand ?? Die kommenden Jahre werden für Frankreich­s eben erst wiedergewä­hlten Präsidente­n Emmanuel Macron komplizier­t.
Foto: Imago/Aurelien Morrissand Die kommenden Jahre werden für Frankreich­s eben erst wiedergewä­hlten Präsidente­n Emmanuel Macron komplizier­t.
 ?? Foto: AFP / Thibaud Moritz, Reuters / Lucien Libert ?? Die Überraschu­ngskandida­tinnen Edwige Diaz (li.) und Rachel Keke (re.) ziehen ins Parlament ein.
Foto: AFP / Thibaud Moritz, Reuters / Lucien Libert Die Überraschu­ngskandida­tinnen Edwige Diaz (li.) und Rachel Keke (re.) ziehen ins Parlament ein.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria