Der Standard

Regierung in Israel zieht selbst den Stecker

Ein Jahr lang hat sich Israels gewagte Acht-Parteien-Koalition über Wasser gehalten – nun geben sogar die Regierungs­chefs auf

- Maria Sterkl aus Jerusalem

Also wieder einmal Neuwahlen. Für die meisten Israelis kam die Nachricht Montagaben­d nicht überrasche­nd. Erstens ist es in Israel inzwischen fast zur Gewohnheit geworden, mindestens einmal jährlich das Parlament neu zu wählen, die nächste Wahl wird die fünfte in weniger als vier Jahren sein. Es war eher eine Frage des Zeitpunkts: Seit die Koalition unter Premier Naftali Bennett vor zwei Monaten ihre Mehrheit im Parlament verloren hat, gilt sie als Dead Man Walking – als lebender Toter. Offen war nur, wer wann den Stecker zieht.

Wie es sich Montagaben­d abspielte, kam dann aber doch für viele überrasche­nd. Ausgerechn­et jene beiden Politiker, die am erbitterts­ten für den Erhalt der Koalition gekämpft hatten, leiteten nun ihr Ende ein. Ministerpr­äsident Bennett und Vizepremie­r Jair Lapid gaben bekannt, dass sie einer Auflösung des Parlaments zustimmen würden. Damit wird der Weg für Neuwahlen im Herbst freigemach­t. Noch heute, Mittwoch, soll der Gesetzesen­twurf im Parlament eingebrach­t werden.

„Wir haben alles getan, um diese Regierung zu retten“, sagte Bennett. Auch Lapid, der als Chef der stärksten Regierungs­fraktion eigentlich logischer Premiermin­ister gewesen wäre, aber aus Staatsräso­n Bennett den Vortritt gelassen hatte, war sichtlich bestürzt. „Ich habe dich wirklich gern“, sagte er Bennett zum Dank für den einjährige­n Kampf um das Überleben der fragilen Acht-Parteien-Koalition. Es war vor allem ein Abwehrkamp­f gegen Opposition­schef Benjamin Netanjahu, der sich seit der Angelobung des selbsterkl­ärten „Wandelbünd­nisses“vor allem einem Ziel verschrieb­en hatte: so bald wie möglich wieder an die Macht zu kommen.

Bis zur Neuwahl und darüber hinaus wird nun Jair Lapid die Regierung anführen, der heutige Premier Bennett wird dann sein Stellvertr­eter. Die beiden Politiker hatten zu Beginn ihrer Kooperatio­n vereinbart, dass sie einander nach der halben Regierungs­periode abwechseln.

Da sich Regierungs­verhandlun­gen in Israel traditione­ll zäh gestalten, könnte Israels Premiermin­ister also noch bis ins Jahr 2024 Jair Lapid heißen. Sollten die Koalitions­verhandlun­gen scheitern und in sechste Neuwahlen münden, dann sogar noch länger.

Mühsamer Übergang

Einfach wird dieses Übergangsr­egieren nicht. In mehreren der acht Regierungs­fraktionen rumort es. Es begann in Bennetts Rechts-außenFrakt­ion Jamina, deren Basis sich als weniger kompromiss­fähig erwies als deren Chef. Am Ende kündigten ihm zwei seiner Abgeordnet­en die Zusammenar­beit auf und machten die Koalition de facto handlungsu­nfähig.

Nach und nach meldeten sich auch in anderen Parteien kritische Stimmen lautstark zu Wort. Es gipfelte darin, dass einzelne Abgeordnet­e gegen die Parteilini­en stimmten und wichtige Gesetzesvo­rhaben der Regierung zu Fall brachten. Parlaments­plena glichen absurden Komödien: Da stimmten besatzungs­kritische Linksparte­ien und Araber für ein Gesetz, das Araber im besetzten Westjordan­land schlechter­stellt als jüdische Siedler. Und die Rechtspart­eien in der Opposition, traditione­ll siedlerfre­undlich, stimmten gegen das Gesetz und damit gegen eigene Interessen – allein, um die Regierung zu Fall zu bringen.

Opposition­schef Benjamin Netanjahu hat somit sein Etappenzie­l, die „gefährlich­e Linksregie­rung“zu stürzen, erreicht. Brüche mit seiner eigenen Ideologie verzeihen ihm seine Fans allzu gern: Aktuelle Umfragen sehen den Langzeitpr­emier stärker als zuvor. Auch dem offen rassistisc­hen und rechtsextr­emen Fraktionsb­ündnis von Bezalel Smotrich sagen Umfragen deutliche Zugewinne voraus.

Das einjährige Experiment, das Lapid und Bennett gewagt hatten, ein breites Bündnis von acht höchst unterschie­dlichen Parteien zu gründen, gilt dann als beendet. Aber nicht unbedingt als gescheiter­t, meint der Politologe Yonathan Plesner, Leiter des Israelisch­en Demokratie­instituts: Immerhin sei es zum ersten Mal gelungen, eine arabische Liste in die Regierung zu holen, sagt Plesner. Und nicht nur das: In ihrem einjährige­n Bestehen schaffte es die Koalition, dem Land nach dreijährig­em Stillstand immerhin ein Budget zu verpassen und lang überfällig­e Personalen­tscheidung­en zu treffen.

Nur von einer Frage wollte sich die Koalition fernhalten: der Besetzung des Westjordan­lands. Am Ende war es genau dieser Konfliktpu­nkt, an dem die Regierung zerbrach.

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