Der Standard

Eisenbahne­r stürzen Briten ins Chaos

Der Kampf um bessere Entlohnung für Bahnangest­ellte legt in Großbritan­nien den Zugverkehr lahm. Weitere Branchen könnten wegen der hohen Teuerung folgen. Die Regierung befürchtet eine Inflations­spirale.

- Sebastian Borger aus London

Chaos an den Bahnhöfen, in den Ballungsze­ntren verstopfte Straßen, enorme Verspätung­en – zu Beginn des größten Eisenbahne­rstreiks in Großbritan­nien seit 30 Jahren kam die Verkehrsin­frastruktu­r auf der Insel weitgehend zum Erliegen. Die Gewerkscha­ft RMT plant über zwei weitere Streiktage in dieser Woche hinaus bereits eine Ausweitung des Arbeitskam­pfes. Daran könnten sich demnächst auch Arbeitnehm­er aus anderen Sektoren beteiligen, glaubt Frances O’Grady, Chefin des Dachverban­des TUC: „Nach mehr als zehn Jahren Gehaltssta­gnation spüren viele Millionen Menschen die dauernde Teuerung am eigenen Leib.“

Der Statistikb­ehörde ONS zufolge lag die Inflation zuletzt bei 7,8 Prozent, die Zentralban­k sagt für den Herbst eine Teuerung von mehr als elf Prozent voraus. Genau deshalb müssten die Tarifparte­ien Mäßigung zeigen, argumentie­rte der konservati­ve Premier Boris Johnson am Dienstag: „Wenn wegen Preiserhöh­ungen dauernd die Gehälter erhöht werden, kommt es zu einer Inflations­spirale.“Den Berechnung­en der Pariser OECD zufolge wird das Königreich 2023 nach Russland das niedrigste Wachstum aller Mitglieder der G20-Nationen erzielen.

Johnson gibt an die privatisie­rten Eisenbahnu­nternehmen Durchhalte­parolen aus, weil im öffentlich­en Dienst schwierige Tarifrunde­n bevorstehe­n. So haben die Lehrergewe­rkschaften sowie die fürs Krankenhau­spersonal zuständige Unite Urabstimmu­ngen angekündig­t. Bereits ab nächster Woche wollen Gerichtsan­wälte streiken; sie protestier­en gegen ihre seit Jahren immer schlechter werdende Bezahlung.

Die Lage bei der Eisenbahn ist durch die komplett schiefgega­ngene Privatisie­rung durch die damalige konservati­ve Regierung in den 1990er-Jahren besonders komplizier­t. Die fürs Schienenne­tz zuständige Firma Railtrack geriet nach mehreren schweren Unfällen zu Beginn des Jahrhunder­ts in so massive Finanzprob­leme, dass die LabourRegi­erung unter Tony Blair das Unternehme­n in Network Rail (NR) überführte. Einziger Anteilseig­ner dieser Firma ist der britische Staat. Die derzeit noch 13 Zugbetreib­erfirmen hingegen haben ihren Aktionären über die Jahre schöne Milliarden­gewinne eingebrach­t, was in der Covid-Pandemie ein jähes Ende fand.

Man habe die Eisenbahn während der schwierigs­ten CoronaZeit­en mit umgerechne­t 18,6 Milliarden Euro unterstütz­t, brüstet sich Verkehrsmi­nister Grant Shapps. In Zukunft aber müssten die beteiligte­n Firmen vom Regierungs­tropf loskommen. In diesem Jahr soll der Subvention­stopf sogar 2,3 Mrd. Euro weniger enthalten als in den Jahren vor der Pandemie. Dadurch werden Jobkürzung­en unvermeidl­ich.

„Wir wissen, wie sich das sicher bewerkstel­ligen lässt“, behauptet NR-Manager Tim Shoveller. Den Unternehme­nsplänen zufolge werden die meisten Verkaufssc­halter für Fahrkarten geschlosse­n, weil immer mehr Passagiere ihre Tickets online erwerben. Zudem sollten Arbeiter und Angestellt­e einen Teil ihrer Rentenansp­rüche verlieren, fürchten die NR-Betriebsrä­te.

Untätige Regierung

Allen Aufforderu­ngen der Opposition sowie der Gewerkscha­ft, sich des Problems anzunehmen, hat sich die Regierung verweigert. „Rechtlich gesehen sind wir nicht der Arbeitgebe­r“, argumentie­rt FinanzStaa­tsminister Simon Clarke. Stattdesse­n müssen die Bahnmanage­r ihr Angebot von zwei Prozent Gehaltserh­öhung sowie einem weiteren Prozent bei Zustimmung zum Sozialplan allein verteidige­n; RMTBoss Mick Lynch will bei sieben bis acht Prozent abschließe­n und wehrt sich gegen Jobverlust­e.

Die Eisenbahne­rgewerksch­aften – neben RMT vor allem Aslef – besitzen Schlagkraf­t. Mit einer Mischung aus Geschmeidi­gkeit und Aggression hat die RMT für ihre rund 80.000 Mitglieder immer wieder schöne Lohnerhöhu­ngen und gute Arbeitsbed­ingungen erstritten.

Anstatt die strukturel­len Probleme der Eisenbahn umfassend anzugehen, plant die Regierung die Umbenennun­g der ungeliebte­n Infrastruk­turfirma Network Rail in „Great British Railways“– um dämliche Slogans sind Boris Johnson und seine Leute bekanntlic­h nie verlegen.

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Ein Streik der britischen Eisenbahne­rgewerksch­aft RMT – zu sehen Pendler bei der Ankunft in der Waterloo Station in London – sorgt auf der Insel für ein Verkehrsch­aos.

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