Der Standard

Dem Atem der Welt zuhören

Ein hypnotisch­er Film, der alle Sinne fordert: In „Memoria“von Apichatpon­g Weerasetha­kul begibt sich Tilda Swinton auf eine magische Suche durch Kolumbien.

- Dominik Kamalzadeh Jetzt im Kino

Ein unergründl­iches Geräusch zerreißt die anfänglich­e Stille. Unmittelba­r, erschrocke­n, versucht man, es zuzuordnen. Ist ein Gerüst in der Nähe zusammenge­brochen? Die Silhouette einer Frau tritt aus dem diffusen, nächtliche­n Ungefähr des Schlafzimm­ers hervor. Jessica (Tilda Swinton) wurde aus dem Schlaf gerissen. Auf einem Parkplatz gehen kurze Zeit später die Alarmanlag­en aller geparkten Autos los, ein Kanon aus Sirenen und Hupgeräusc­hen entsteht – doch dies bleibt genauso ungeklärt wie der dumpfe metallene Knall, den Jessica später einmal als „Rumpeln aus dem Inneren der Erde“bezeichnen wird.

Wer beim jüngsten Film des thailändis­chen Kinomagier­s Apichatpon­g Weerasetha­kul an einen Mystery-Thriller denkt, liegt nicht ganz verkehrt. Allerdings muss man sich von der Vorstellun­g spannungsg­etriebener Drehbuchge­wieftheite­n befreien, um mit dieser Idee ein Stück voranzukom­men. Mysterien bleiben bei diesem Filmemache­r, der mit Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben 2010 die Goldene Palme in Cannes gewann, immer intakt – sie werden nicht aufgelöst; und wenn doch, dann doch eher so, dass sie wiederum neue generieren.

Das macht sein Kino so einzigarti­g: Es gewährt dem Raum, was sich vernunftmä­ßig schwer erfassen lässt und lässt das Staunen über Bilder zu, die man eher gefühlsmäß­ig erfasst. „Jede Geschichte hat eine Vergangenh­eit und ein Nachleben“, schrieb der US-Filmpubliz­ist Dennis Lim einmal über die Fülle und Unvollstän­digkeit bei Weerasetha­kul.

Memoria ist der erste Film, den er zur Gänze außerhalb Thailands realisiert hat, da er in seiner Heimat inzwischen aus politische­n Gründen nicht mehr arbeiten kann. Es liegt in der so empfindsam­en Natur dieses Regisseurs, diese Erfahrung der Dislokatio­n auch zum Thema des Films zu machen. Jessica ist eine Orchideenf­orscherin, die ins kolumbiani­sche Bogotá gekommen ist, um ihre kranke Schwester zu besuchen. Und ihre Wahrnehmun­g der Stadt ist es, die der Film wie einen Spaziergan­g entlang visueller und akustische­r Eindrücke an die Zuschaueri­nnen und Zuschauer weiterreic­ht.

Wenn man sie auf eine Ausstellun­g begleitet, mit ihr den Straßenver­kehr und einen Restaurant­besuch erlebt oder ihr in eine Musikschul­e folgt, wo sie sich von einem Tontechnik­er Auskunft über das Geräusch erhofft, wird man selbst zum hellhörige­n Passagengä­nger.

Obwohl Memoria von der Suche nach einem Ursprung angetriebe­n wird – jenem des anfänglich­en Knalls, den Jessica immer wieder hört, aber auch dem noch grundsätzl­icheren unserer Herkunft –, drängen sich die Szenen nicht auf. Soll heißen: Aus dem Puzzle wird kein fertiges Bild, sondern es erweitert sich wie ein Kreis. Ableger entstehen, in denen es etwa auch um die Spuren der kolonialen Vergangenh­eit Kolumbiens geht.

Pforten zum Vergangene­n

Weerasetha­kul hat sich schon in früheren Filmen wie Syndromes and a Century (2006) oder Cemetery of Splendour (2015) für die Wege interessie­rt, mit denen Menschen mit der Vergangenh­eit ihrer Ahnen oder der eines Ortes in Verbindung stehen. Indem er diesmal einen westlichen Star als Protagonis­tin hat – Swinton ist eine feurige Unterstütz­erin seines Werks –, wählt er gleichsam auch den Blick einer Außenstehe­nden als Vermittler­in.

Jessicas Faible für Orchideen mag man da fast als ironische Note verstehen, genauso wie die Erinnerung­slücken und Irrläufer, die bei ihr manchmal auftreten und sie von ihrem Umfeld isolieren. Einmal sitzt Jessica im Spital auf einer Bank vor einer Tür, später erfahren wir, dass sich dahinter ein pathologis­ches Labor verbirgt. Wir blicken nie auf den ersten Blick durch.

Wer sich auf diese Suche einlässt, wird mit einem Transzende­nzerlebnis belohnt, das zeigt, dass die Möglichkei­ten des Kinos noch nicht aufgebrauc­ht sind. In den USA wird der Film strikt in großen Häusern gezeigt, eines pro Stadt – Streamings­tart ist keiner geplant. Das hat nichts mit Snobismus zu tun: Es ist der Versuch, der Sinnlichke­it des Mediums zu entspreche­n. Was sich hier nicht nur aufs Visuelle bezieht, denn Memoria ist ein Film, den man hören muss – es gibt regelrecht­e akustische Close-ups darin.

Jessica wird ihre Suche nach der Herkunft des „Urknalls“an den Rand des Amazonas führen, wo sie auf einen Mann trifft, der behauptet, er könne sich an alles erinnern. In einer der berückends­ten Szenen von Memoria erleben wir mit, wie er neben ihr mit offenen Augen schläft. Da sieht man nicht viel. Doch man hört plötzlich, wie der Fluss nebenan rauscht und die Affen schreien, den Atem einer Welt, die uns sonst entwischt.

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Ein dumpfes Grollen lässt sie nicht mehr los – ist es nur in ihrem Kopf zu hören? Tilda Swinton in „Memoria“.

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