Eine toxische Beziehung
Mit einem ambitionierten Programm will die EU-Kommission den Pestizideinsatz in Europa bis zum Jahr 2030 halbieren. Einige Mitgliedsstaaten stellen sich jedoch quer – unter anderem Österreich.
Selten ist ein Gesetzesvorschlag so umstritten wie jener, den die EU-Kommission am Mittwoch vorgelegt hat. Die drei Kommissare, die da auf dem Podium im Brüsseler Berlaymont-Gebäude standen, hatten viele Monate gefeilscht und verhandelt – und sich hitzige Diskussionen dazu geliefert, was Russlands Krieg gegen die Ukraine für die Ernährungssicherheit bedeutet. „Einige sehen den Krieg als perfekte Ausrede, um beim Artenschutz auf die Bremse zu steigen“, eröffnete schließlich der Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans die viele Monate verzögerte Präsentation des neuen Pestizidgesetzes. Es sieht vor, den Pestizideinsatz in Europa bis 2030 zu halbieren.
Eigentlich war das Paket, Teil der sogenannten Farm-to-Fork-Strategie, bereits für März angekündigt gewesen, doch dann begann Russland seinen Krieg – und es wurde verschoben. Die Ernährungssicherheit sei in Gefahr, so das Argument, das Agrarverbände sowie einige Mitgliedsstaaten nutzen. Der Krieg bedeute zwar enorme Risiken für die Ernährungssicherheit in Afrika und dem Nahen Osten, sagt Timmermans im Gespräch mit dem Journalistenkollektiv Investigate Europe: „Aber diese Probleme zu nutzen, um Farm to Fork aufzugeben, würde heißen, die langfristige Gesundheit und Überlebensfähigkeit unserer Landwirtschaft aus sehr kurzfristigen Interessen zu zerstören.“
„Maßgeschneiderte Lösungen“
So eindringlich Timmermans’ Appell, so groß sind auch die Bedenken, die einige Mitgliedsstaaten anmelden: darunter auch Österreich. Als einziges Land stellte sich Österreich im Dezember 2020 im Rat gegen den Plan, das Pestizidreduktionsziel im Green Deal anzukündigen, wie EU-Ratsdokumente zeigen, die den Organisationen Global 2000 und PAN Europe vorliegen.
Bei einem Gipfeltreffen im März, nach Beginn des Ukraine-Kriegs, forderte die damalige Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP): „Jetzt wäre es sehr wichtig, die Produktion zu intensivieren.“Frans Timmermans hingegen verteidigt die neuen Ziele: 20 Prozent der Nahrungsmittel in Europa würden im Müll landen. Und zwei Drittel des Getreides werde als Tierfutter genutzt.
Trotzdem meldete Österreich Anfang Juni an, es seien „weitere Diskussionen erforderlich“– die österreichische Unterschrift fand sich dazu auf einem Positionspapier, das unter anderem auch Polen und Ungarn zeichneten. Die Länder seien bereit, sich an der Suche nach „maßgeschneiderten Lösungen“für die einzelnen Mitgliedsstaaten zu beteiligen, doch die Ernährungssicherheit müsse garantiert sein. „Das kommt einer Forderung nach Verschiebung oder Zurücknahme gleich“, kritisierte Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker bei Global 2000: „Unter Köstinger hat sich Österreich an die Spitze einer Gruppe überwiegend osteuropäischer Staaten gehievt, die verbindliche Ziele zur Reduktion von Pestiziden und zum Schutz von Bestäubern lautstark ablehnten.“
Eine der Forderungen aus dem Positionspapier der Kritiker schien der Kommission jedoch schon sinnvoll: Die Ausgangssituation der jeweiligen Staaten müsse besser berücksichtigt werden, statt für jedes Land dasselbe 50-Prozent-Ziel vorzuschreiben. Das sei sehr zu begrüßen, heißt es dazu aus dem österreichischen Landwirtschaftsministerium, nunmehr unter Norbert Totschnig (ÖVP).
Was genau wird da halbiert?
Schließlich habe Österreich die chemischsynthetischen Wirkstoffmengen im Zehnjahresvergleich bereits um 22 Prozent gesenkt – das sei mehr als der EU-Durchschnitt. Gelungen sei das vor allem, weil bereits ganze 26 Prozent der Landwirtschaft bio sei, im EU-Schnitt sind es rund zehn Prozent. Entsprechend will die Kommission jetzt das Pestizidziel gewichten. Je nachdem, wie groß der Pestizideinsatz in einem Land heute sei, müsse es bis 2030 um 40, 50 oder 60 Prozent reduzieren.
Hier liegt allerdings auch der Punkt aus dem Gesetzesentwurf, über den wohl in den kommenden Monaten am meisten gestritten werden wird: nämlich die Frage, was denn eigentlich genau halbiert werden soll. Die Kommission schlägt dazu eine Rechnung vor, wonach „harmlose“, „reguläre“und „schädlichere“Pestizide je unterschiedlich gewichtet werden und dann daraus die zu halbierende Menge berechnet wird.
Der Generalsekretär der österreichischen Landwirtschaftskammer, Ferdinand Lembacher, nennt diesen Mengenansatz „undifferenziert“. „Auch die angedachte Risikobewertung ändert nichts daran, dass manche Pflanzenschutzmittel bereits mit wenigen Gramm ihre Wirkung erreichen und andere erst mit vielen Kilogramm. Die Angabe der Masse sagt nichts über ein allfälliges Risiko aus.“
Was genau der Indikator für die heute in Österreich eingesetzten Mengen bedeutet, ist nicht klar – das werde derzeit geprüft, so das Landwirtschaftsministerium. Denn die Daten dazu, welche Pflanzenschutzmittel wo und in welchen Mengen eingesetzt werden, sind bislang nicht zugänglich. Zwar steigt der erfasste Absatz von Pflanzenschutzmitteln – aber diese Daten sind irreführend, weil sie auch harmlose Stoffe enthalten, wie sie etwa im Biolandbau eingesetzt werden. „Anders als in Deutschland, wo ein Gerichtsurteil Klarheit geschaffen hat, betrachtet Österreichs Landwirtschaftsministerium diese Verkaufszahlen als vertrauliche Daten und weigert sich daher, sie zu veröffentlichen“, sagt Burtscher-Schaden von Global 2000. Einem EU-Gesetz, das zur elektronischen Übermittlung dieser Daten verpflichten soll, müssen die Mitgliedsstaaten noch final zustimmen.
Zur Pestizidverordnung selbst starten jetzt die Verhandlungen mit Rat und Parlament. Bislang erklärte nur Deutschland seine Unterstützung für den Entwurf. Ob dieser also je umgesetzt wird, ist offen. Aus dem Landwirtschaftsministerium heißt es dazu: Österreich begrüße den Vorschlag grundsätzlich. Doch die „nationalen Gegebenheiten und erbrachten Vorleistungen werden weiterhin zentrale Diskussionspunkte bleiben“.