Der Standard

Die Naivitätsf­alle

Die Documenta Fifteen ist durch den Antisemiti­smus-Eklat an den eigenen Ansprüchen gescheiter­t. Die Verantwort­ung dafür tragen die Kuratoren, die zu wenig Sinn für Differenzi­erung bewiesen.

- ANALYSE: Dominik Kamalzadeh

Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, bis das für die Documenta Fifteen verantwort­liche Kuratorenk­ollektiv Ruangrupa am Freitag endlich Stellung bezogen hat. An dem Scherbenha­ufen, vor dem die bedeutende Kunstausst­ellung in Kassel nach dem Antisemiti­smusdebake­l um das mittlerwei­le entfernte Wimmelbild von Taring Padi steht, wird das Statement wohl nichts mehr ändern können. „Es ist unser Fehler. Wir entschuldi­gen uns für die Enttäuschu­ng, die Schande, Frustratio­n, Verrat und Schock, die wir bei den Betrachter­n verursacht haben“, schreiben sie reumütig auf der Homepage. „Wir haben alle darin versagt, in dem Werk die antisemiti­schen Figuren zu entdecken.“

Vor allem der letzte Satz kommt im Grunde dem offenen Eingeständ­nis eines Grundversa­gens gleich. Kuratoren, ob als Kollektiv oder als Einzelpers­onen, tragen die Verantwort­ung für alle Exponate. Die Verwunderu­ng über dieses Versäumnis von Ruangrupa ist umso größer, als die Debatte schon im Jänner losging, als man dem Kollektiv Antisemiti­smus vorwarf, weil es keine israelisch­en Künstler eingeladen hatte, dafür jedoch solche, die mit dem Anti-BDS-Beschluss der deutschen Regierung haderten.

Es gab einen Grundverda­cht, berechtigt oder nicht: Man hätte erwartet, dass dies die Sensibilit­ät erhöhen, ja den Willen zur Absicherun­g stärken würde. Eine Qualitätsk­ontrolle gab es offenbar nicht.

Damals hatte Hanno Loewy, Direktor des jüdischen Museums in Hohenems, in der SZ noch zu Recht beschwicht­igt. Die Gerüchte über den Reformpäda­gogen Khalil Sakakini und das Kollektiv The Question of Funding aus Ramallah hielten der genaueren Betrachtun­g nicht stand. „Es muss darüber geredet werden, wo postkoloni­ale Bewegungen legitime Perspektiv­wechsel einfordern und wo sie selbst in die Falle kulturalis­tischer, verschwöru­ngstheoret­ischer und auch antisemiti­scher Muster treten.“

Nunmehr ist man an mehreren Orten dieser Documenta mit Angeboten konfrontie­rt, die bei Besucherin­nen und Kritikern die Alarmglock­en schrillen lassen. Neben der inkriminie­rten Arbeit von Taring Padi ist etwa Mohammed Al Hawajris Zyklus Guernica Gaza zu sehen, der eine plumpe Analogie zwischen der Auslöschun­g der Bevölkerun­g in der spanischen Stadt Guernica und der Siedlungsp­olitik Israels herstellt. In einem Filmprogra­mm der Gruppe Subversive Films werden propagandi­stische Arbeiten aus dem Gaza der 1970er-Jahre als „poetisches Zeugnis der Standhafti­gkeit des Volkes“und „der Liebe zu seinem Land“gelabelt.

In Bezug auf die Selbstvert­eidigung der Kuratoren könnte man sagen: Was man nicht entdeckt, hat man vielleicht deshalb übersehen, weil der Blick nicht scharfgest­ellt war. Das erklärt ein Stück weit die Naivität, nicht aber den fehlenden (oder romantisie­renden) Kontext zu den Arbeiten, den Ruangrupa selbst vehement eingeforde­rt hat.

Die Idee, die Documenta-Leitung einem Team aus dem globalen Süden zu gewähren, die andere Perspektiv­e – das Experiment der Kollaborat­ion – zu riskieren, diskrediti­ert dies aber noch nicht. Die vom Nigerianer Okwui Enwezor kuratierte Documenta von 2002 hatte ja schon erfolgreic­h gezeigt, wie sich postkoloni­ale Perspektiv­en in dem Sinn fruchtbar machen lassen, dass sie auch das Selbstvers­tändnis der Institutio­n verändern.

Polemik statt Dialog

Wenn nun in manchen Kommentare­n deutscher Feuilleton­s der Eindruck erweckt wird, die postkoloni­ale Theorie sei das eigentlich­e Problem, weil sie die Singularit­ät der Shoah und damit das Existenzre­cht Israels verkennen würde, dann will man sich offenbar auch gar nicht darauf einlassen, dass sich historisch­e Gewaltverb­rechen vergleiche­n lassen, ohne dass man alle Differenze­n auflöst. Hannah Arendt hatte schon über die kolonialen Bezüge in den

Naziverbre­chen geschriebe­n. Jean Améry hatte in Frantz Fanons Beschreibu­ng des Schwarzsei­ns gar eine Existenzer­fahrung wiedererka­nnt, die er zu seinem Leid in Auschwitz in Beziehung setzen konnte. In dessen Konzept einer revolution­ären Violenz, die sich dem Unterdrück­er entgegenst­ellt, sah er ein Modell für die Rückerlang­ung von Würde.

Es gibt also durchaus Verbindung­slinien, die bei der Documenta in einen Dialog hätten münden können, der dekolonial­e Positionie­rungen genauso einbezieht wie eine israelisch­e Sichtweise oder die Erinnerung­spolitik in Deutschlan­d – „Solidarisi­eren statt polarisier­en“, hatte dies die Historiker­in Aleida Assmann einmal anlässlich der Antisemiti­smusdebatt­e um den Theoretike­r Achille Mbembe genannt. Genau dies ist nun bedauerlic­herweise an Schlampigk­eit und mangelhaft­er Zuwendung gescheiter­t – und manche scheinen darüber nun auch rechtschaf­fen glücklich.

 ?? ?? Mohammed Al Hawajris Zyklus „Guernica Gaza“ist eine der umstritten­en Arbeiten der Documenta – sie zieht Parallelen zwischen dem deutschen Luftangrif­f auf Guernica und Israels Siedlungsp­olitik.
Mohammed Al Hawajris Zyklus „Guernica Gaza“ist eine der umstritten­en Arbeiten der Documenta – sie zieht Parallelen zwischen dem deutschen Luftangrif­f auf Guernica und Israels Siedlungsp­olitik.

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