Der Standard

Europas blockierte Macht

Politische Willkür im Erweiterun­gsprozess gefährdet die größte Stärke der EU

- Eric Frey

Militärisc­h schwach und politisch oft zerstritte­n, ist die Europäisch­e Union in den vergangene­n 30 Jahren dennoch zu einer regionalen Großmacht geworden. Dies hat sie einer Stärke zu verdanken: dem Wunsch fast aller Nachbarsta­aten, Mitglied in diesem elitären Klub zu werden. Auch wenn einige Staaten vielleicht zu früh beigetrete­n sind und Länder wie Ungarn und Polen später in eine autoritäre Richtung abgebogen sind, hat der Erweiterun­gsprozess sein Ziel erreicht: nach dem Kollaps des Kommunismu­s eine Sphäre des Friedens, der Rechtsstaa­tlichkeit und des wachsenden Wohlstands in Mittelund Osteuropa zu schaffen.

Mit der Entscheidu­ng der EU-Staaten, auch der Ukraine und Moldau eine konkrete Beitrittsp­erspektive zu bieten, geht die Union noch weiter: Sie setzt den Kandidaten­status als Schild gegen die Bedrohung durch einen brutalen Aggressor ein. Der Schritt wird die russische Artillerie im Donbass zwar nicht zum Schweigen bringen, aber er bindet die westeuropä­ischen Staaten noch stärker als bisher an die Verteidigu­ng der Ukraine und sollte vor allem dem kleinen Moldau politische­n Rückhalt gegen moskautreu­e Separatist­en bieten.

Dass beide Staaten von EU-Reife noch weit entfernt sind, ist nicht entscheide­nd. Denn der Kandidaten­status bedeutet nicht die Aufnahme von Verhandlun­gen, und diese münden nicht automatisc­h in einen Beitritt – siehe etwa das Beispiel Türkei.

Die historisch­e Entscheidu­ng für die Ukraine und Moldau wäre noch viel mehr wert, würde dieser Prozess klaren Regeln folgen. Es darf ruhig viele Jahre dauern, bis der tausende Seiten dicke „acquis“abgearbeit­et und der Beitritt vollzogen ist. Aber die Kandidaten müssen darauf zählen können, dass sie tatsächlic­h weiterkomm­en, wenn sie ihre Hausaufgab­en erfüllen.

Gerade die EU, die sonst auf die strikte Erfüllung von Zusagen pocht, lässt hier der politische­n Willkür freien Lauf. Jeder Schritt der Annäherung kann von einem einzigen Mitgliedss­taat jahrelang blockiert werden – sei es aus nationalis­tischer Verblendun­g oder innenpolit­ischer Taktik. Manche Westbalkan­staaten finden sich in einer ewigen Warteschle­ife wieder. Das führt dazu, dass die so positive Wirkung der Beitrittsh­offnung Frustratio­n und Entfremdun­g Platz macht. Auch wenn das bulgarisch­e Parlament das Veto gegen Nordmazedo­nien fünf nach zwölf doch noch aufhebt, droht die EU Respekt und Einfluss in der Region zu verlieren – und damit auch ihre vielgerühm­te „weiche Macht“. Das öffnet geopolitis­chen Rivalen wie Russland und China die Tore.

Deshalb muss verhindert werden, dass einzelne EU-Staaten im Erweiterun­gsprozess ein Veto ausüben. Je größer die Union, desto wahrschein­licher wird der Missbrauch. Es sollte die Stimmen von zwei oder sogar drei Staaten benötigen, um einen von der Kommission empfohlene­n Schritt zu stoppen. Eine solche Vertragsän­derung wäre machbar und im Interesse aller.

Aber weder sollten die Beitrittsk­riterien aufgeweich­t, noch sollte Ländern falsche Hoffnung gemacht werden. Der Vorstoß von Kanzler Karl Nehammer, auch Bosnien-Herzegowin­a Kandidaten­status zu geben, war fehlgeleit­et. Denn das zerrissene Land ist – anders als die Ukraine oder Moldau – kein funktional­er Staat.

Die EU muss und wird in den kommenden Jahren weiterwach­sen – möglichst ohne Willkür, aber wohlüberle­gt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria