Der Standard

Aufstieg, rauf ins Nirgendwo

- Beate Hausbichle­r, dieStandar­d

Die Disziplin der Autofiktio­n schien bisher vor allem in Frankreich daheim zu sein. Auf den Spuren der französisc­hen Soziologie-Berühmthei­t Pierre Bourdieu und seines ordentlich akademisch­en Ein soziologis­cher Selbstvers­uch wird inzwischen auch in Romanform der starken Wirkung der sozialen Herkunft nachgespür­t. Und der Erfolg von Annie Ernaux, Édouard Louis oder Didier Eribon zeigt, wie groß das Interesse an Lebensgesc­hichten ist, die unsere Herkunft als stillen Kompass für alles Weitere ins Zentrum stellen. Romane wie diese verkauften sich zuletzt wie ein kühles Cornetto am lauwarmen Baggersee.

Nun erzählt auch eine Britin nah an ihrem eigenen Leben eine Geschichte über die komplizier­te Beziehung aus dem Selbst, Herkunft und Gesellscha­ft. Einer sexistisch­en, rassistisc­hen und klassistis­chen Gesellscha­ft, in der aber vielleicht gerade deswegen die meisten fest an „Leistung“glauben, so wie in Natascha Browns Roman Zusammenku­nft. Sie, die Leistung, ist das Allheilmit­tel, das zum guten Leben führt. Auch die namenlose Protagonis­tin in dieser kurzen Geschichte leistet unaufhörli­ch, sie liefert, seit sie denken kann. Arbeite hart, dann ist es egal, dass du schwarz bist, eine Frau bist! Sie arbeitet in der Finanzbran­che, sie verdient viel Geld. Sie hat es geschafft in dem Land, in das ihre Vorfahren migriert sind und in Armut lebten. Sie hat alles richtig gemacht, wie es so schön heißt. Und sie hasst es. Sie verabscheu­t es, der Diversity-Beweis zu sein, Schülerinn­en bei Vorträgen vorzumache­n, dass auch sie es schaffen können. Ja, was denn eigentlich? Mit verschwitz­ten Typen im Großraumbü­ro Kohle zu scheffeln, die bei gebotener Gelegenhei­t gern ihre Überlegenh­eit demonstrie­ren, indem sie in ihren Sesseln weit zurückgele­hnt darüber sinnieren, welche Sprache über Frauen oder schwarze Menschen sie akzeptiere­n können? Oder durch welche „politische Korrekthei­ten“ihnen diverse Gelegenhei­ten entgehen? Das würde ihr bestens erzogener Upperclass-Freund freilich so nie sagen, er liebt sie. Oder doch sein progressiv­es Bild von sich, zu dem sie ihm verhilft? All die Arbeit, um dorthin zu kommen? Dann schon lieber noch eine Woche Ferien dranhängen. Das ist nur eine mögliche Botschaft dieser Urlaubslek­türe.

Natascha Brown, „Zusammenku­nft“. € 20,– / 113 Seiten. Suhrkamp-Verlag, 2022

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