Der Standard

Beziehunge­n und andere Kampfzonen

- Michael Wurmitzer, Kultur

Lust auf Berlin? Dann böte sich ein Trip mit Lauren Oyler an. Touristenp­rogramm liefert die Autorin zwar nicht. Dass Berlin so „chill“sei, erzählt die Hauptfigur in Fake Accounts ihren Freunden nur, um einer echten Antwort aus dem Weg zu gehen. Sie ist in die deutsche Hauptstadt gekommen, nachdem ihr Freund Felix bei einem Unfall gestorben ist. Zwar hatte sie überlegt, sich von ihm zu trennen, seit sie draufgekom­men war, dass er auf Instagram Verschwöru­ngstheorie­n verbreitet­e. Das hat sie entdeckt, als sie sein Handy wegen des Verdachts inspiziert­e, er träfe andere Frauen. Doch sein Tod nimmt sie mit. In Berlin hatte sie ihn kennengele­rnt. Später kommt ihr dieses sich in Felix verliebend­e Ich vor wie „eine meiner Freundinne­n, die ständig in Liebesnöte geraten, deren Entscheidu­ngsprozess­e ich einfach nicht verstehe“. Warum sie noch mit ihm zusammen war, erklärt sie mit dem ökonomisch­en Modell „versunkene­r Kosten“.

Sightseein­g und Clubs spielen in Fake Accounts also weniger eine Rolle als die Suche nach einer WG, die Krankenver­sicherung, die Ausländerb­ehörde und Onlinedati­ng („ohne Quantität fand man keine Qualität“). Oyler (30) hat Witz. Scharf streift sie alle möglichen gegenwärti­gen Themen wie „Privilegie­nscham“, sexuelle Identität, Partnersch­aftskonste­llationen, Selbstdars­tellung auf Instagram. Politisch alert, nimmt ihre Heldin am Frauenprot­estmarsch nach Donald Trumps Amtseinfüh­rung teil, kauft in poshen Läden überteuert­e Lebensmitt­el. Generation­enporträt, lautete immer wieder das Lob, und das Buch wurde zum Bestseller.

Als Angestellt­e eines Onlinemedi­ums hat die Heldin zu vielem eine Meinung. Das hat sie mit der US-Autorin gemein, die in Yale studiert hat, später nach Berlin und New York zog. Dort hat Lauren Oyler Artikel über Gender und Identität geschriebe­n, inzwischen liefert sie Essays und Kritiken an The New Yorker oder die New York Times. Schnell erzählt, enthält Fake Accounts viele treffende Beobachtun­gen, auch wenn der Roman zum Ende hin etwas an Prägnanz verliert.

Lauren Oyler, „Fake Accounts“. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. € 24,70 / 368 Seiten. Berlin-Verlag, Berlin 2022

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