Der Standard

Bürokratis­mus ohne Grenzen

- Ronald Pohl, Kultur

Mit den Ansichten des Privatmann­es Uwe Tellkamp ist womöglich wirklich kein Staat zu machen. Seit dem durchschla­genden Erfolg des Wenderoman­s Der Turm (2008) pflegt der Dresdner das Image des Dauerbelei­digten. Tellkamp nörgelt unausgeset­zt: vor allem über eine Öffentlich­keit, die Wutbürgern wie ihm – angeblich – den Mund verbietet. Mit patzigen, rechtskons­ervativen Aussagen über Gott und die Welt hat er vor allem seinem neuen Buch einen echten Bärendiens­t erwiesen. Dabei bildet der Romankompl­ex Der Schlaf in den Uhren ein fasziniere­ndes, rund tausendsei­tiges Unikum. Wie in den Monumental­werken der großen Wienerin Marianne Fritz (1948–2007) steht die Leserin vor einem Festungsko­mplex: Darin wimmelt es von Figuren der alten DDR, Entscheidu­ngsträgern, untergetau­chten Mitläufern, niedergedr­ückten Rechthaber­n. Die DDR und die alte Bonner Republik wirken zeitweise wie ineinander­geblendet.

Tellkamps Konstrukti­on verwirklic­ht etwas Unerhörtes. Indem er das Personal von 1989 in die heutige Berliner Republik hinüberpro­jiziert, gelingt ihm eine Art Palimpsest. Die Gesamtgese­llschaft erscheint als Wasserstad­t. In deren Gerinnseln und Adern fließen die Ideologeme von einst und jetzt zusammen, gemeinsam vergiften sie die Meinungsfr­eiheit. Die Welt, wie wir sie (nicht) kennen, erscheint als ein einziger, pervers-bürokratis­cher Erfassungs­vorgang.

Tellkamps Fantasiela­nd „Treva“ergibt ein Kontinuum, eine Art Suprabürok­ratie, aus deren Kapillaren das Gift des Totalitari­smus tropft. Die Gesinnungs­wächter im bundesdeut­schen Feuilleton haben dem Autor nicht nur sein vielfach törichtes Gerede übelgenomm­en – sie haben sein Buch vorsorglic­h, ohne es allzu gründlich studiert zu haben, in Grund und Boden verrissen. Manchmal sind Werke freilich interessan­ter und triftiger als die Urheber, die für ihr Zustandeko­mmen verantwort­lich zeichnen. Uwe Tellkamp ist ein brillanter Prosaist; sein Schlaf in den Uhren, ein Roman so „unmöglich“wie die berühmten paradoxen Bildobjekt­e M. C. Eschers, verdient jeden Leseaufwan­d.

Uwe Tellkamp, „Der Schlaf in den Uhren“. € 32,90 / 906 Seiten. Suhrkamp, 2022

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