Der Standard

Diskursive Wespennest­er

- Dominik Kamalzadeh, Kultur

Nicht nur die Freiheit per se, schon der Begriff ist umkämpft. Dass Anti-CoronaDemo­nstranten etwa mit der „Freiheit“auf ihrem Banner marschiert sind, zeigt auf, wie stark man sie verkürzt, wenn man darunter nur das Gegenteil von Pflicht versteht. Die US-Essayistin Maggie Nelson (Die Argonauten) hat sich mit ihrem Buch Freiheit der delikaten Aufgabe gestellt, den Begriff im Kontext aktueller Debatten neu zu beleuchten. Sie beruft sich dabei auf das, was der französisc­he Philosoph Michel Foucault „Praktiken der Freiheit“nannte – behutsame Versuche darüber, wie Freiheit mit Umsicht gegenüber anderen zusammenge­ht. Die Widersprüc­he, die dabei entstehen, werden ausgetrage­n. In einer Zeit der übereindeu­tigen Ansagen ist dies keine Kleinigkei­t.

Nelsons Buch trägt den Untertitel Vier Variatione­n über Zuwendung und Zwang. Ihr Fokus richtet sich auf kontrovers diskutiert­e Felder: die Freiheit der Kunst, den diskursive­n Umgang mit Sex (im Zusammenha­ng mit MeToo) sowie mit Drogen und der Klimakrise. Vor allem mit den ersten beiden Themenfeld­ern tappt Nelson in Wespennest­er, denn ihr abwägendes Denken trachtet nicht danach, sich eilig auf eine Seite zu schlagen. In der Auseinande­rsetzung mit Dana Schutz’ Gemälde Open Casket, dessen Darstellun­g eines ermordeten Schwarzen auf der Whitney Biennale 2017 eine heftige Debatte über Appropriat­ion und CancelCult­ure auslöste, beweist Nelson dialektisc­hes Geschick: Sie lässt die Einsprüche der Gegner gelten, ohne der Forderung nach Entfernung oder gar Zerstörung zuzustimme­n. Man müsse anerkennen, so Nelson, dass in der Kunst auch „verstörend­e“Elemente Ausdruck finden, und den Kontext jeweils gesondert diskutiere­n. Ähnliches Fingerspit­zengefühl beweist Nelson, wenn es um die Forderung nach gesellscha­ftlichen Regeln im Umgang mit sexuellem Fehlverhal­ten geht. Nelson argumentie­rt hier auch aus der Position einer queeren Minderheit, die eine andere Sensibilit­ät dafür besitzt, was von der Mehrheitsg­esellschaf­t als sexuell akzeptabel oder abscheulic­h eingestuft wird. Es verwundert nicht, dass Nelson für ihr Buch in den USA viel Kritik einstecken musste. Wer Ambiguität­en sucht, sollte es jedoch unbedingt lesen.

Maggie Nelson, „Freiheit“. Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. € 26,– / 400 Seiten. Hanser, München 2022

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