Erste Berührung
Ich war sehr jung, vielleicht siebzehn, als ich Elfriede Jelineks Die Liebhaberinnen (rororo Taschenbuch, € 10,30, 1989) las. Ich war Lehrling im Salzburger Innergebirg und sah auf einmal überall nur noch die Paulas und Brigittes aus dem Roman. Frauen, die Männer zu den Hauptattraktionen ihres Lebens machten, die ihre eigenen Fähigkeiten, Bedürfnisse und Ziele hintanstellten und es ins Zentrum ihrer Lebensziele rückten, sich vom Richtigen schwängern zu lassen, wobei der Richtige selbstredend der war, der ökonomisch am meisten hergab. Es war das erste Mal, dass ich über die Verhältnisse las, unter denen ich selbst lebte. Vielleicht war es auch so etwas wie meine erste Berührung mit der Soziologie, die ich später, als ich von dort weggegangen war, leidenschaftlich studiert habe. Diese Leidenschaft war vor allem in der reduziert protokollartigen Mündlichkeit begründet, die die empirische Sozialforschung einem auferlegt. Teil der Verhältnisse zu sein, aber gleichzeitig Beobachter*in – ermöglicht wurde das bei Jelinek durch den Verzicht auf jedes sprachliche Tamtam. Dieser Text war karg und bitter, er schmeckte nach allem, was ich sah und kannte, nach allem, wovor ich mich fürchtete. Zugleich war da aber eben auch diese Möglichkeit, die der Text mir zeigte: die Verhältnisse, unter denen ich lebte, wegzurücken von mir, obwohl ich ein Teil von ihnen war; mich ihnen zu entziehen, indem ich sie beschrieb.
Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. 2019 gewann sie mit dem Text „Der Schrank“den BachmannPreis.