Der Standard

Konflikt um Abtreibung in USA weiter verschärft

Starke Proteste gegen Höchstgeri­chtsurteil Rechte drängen auf nationales Verbot

- Karl Doemens aus Washington

Washington – Das Urteil des Obersten Gerichtsho­fs in den USA, das landesweit­e Recht auf Abtreibung zu kippen, hat die Vereinigte­n Staaten in einen Ausnahmezu­stand versetzt. Vor dem Supreme Court in Washington, aber auch in vielen anderen US-Städten protestier­ten Massen gegen den Richterspr­uch, mit dem die Entscheidu­ng über ein Recht auf Abtreibung nach knapp 50 Jahren nun wieder in den Händen der Bundesstaa­ten liegt.

Zahlreiche republikan­isch regierte Bundesstaa­ten hatten sich auf das Urteil vorbereite­t und strenge Abtreibung­sverbote beschlosse­n, die nun in Kraft getreten sind. Andere Bundesstaa­ten wollen dies in den nächsten Wochen nachholen. Auf der anderen Seite betonten die Gouverneur­e von liberalen Staaten wie Kalifornie­n und New York, am Recht auf Abtreibung festzuhalt­en.

Während die Demokraten um Präsident Joe Biden versuchen, die Auswirkung­en des Urteils auf Frauen abzumilder­n, fordern prominente Republikan­er wie Ex-Vizepräsid­ent Mike Pence, ein landesweit­es Abtreibung­sverbot auszusprec­hen.

Für zusätzlich­e Unsicherhe­it sorgt die Ankündigun­g von Höchstrich­ter Clarence Thomas, das Grundsatzu­rteil Obergefell v. Hodges zu überdenken. Dieses ermöglicht homosexuel­len Paaren die Ehe.

In den Stunden nach der Entscheidu­ng des Obersten Gerichtsho­fs, die die Uhren für die Frauenbewe­gung in den USA um ein halbes Jahrhunder­t zurückdreh­te, hatten die Mitarbeite­rinnen des Frauengesu­ndheitszen­trums von West Virginia eine unangenehm­e Aufgabe: Sie mussten am Telefon 70 bereits vereinbart­e Termine für Abtreibung­en absagen. „Einige Patientinn­en haben die Fassung verloren und konnten nichts mehr sagen“, berichtet Katie Quinonez, Geschäftsf­ührerin der einzigen Abtreibung­sklinik in dem konservati­ven Bundesstaa­t. Die Frauen müssen nun Ärzte in liberalen Bundesstaa­ten finden und hunderte Kilometer fahren.

Quinonez selbst hatte nach eigenen Angaben ihr Telefon gegen die Wand geworfen, als sie am Freitag vom abrupten Aus für das landesweit­e Recht auf Abtreibung erfuhr. Doch inzwischen gibt sie sich kämpferisc­h: „Das ist nicht das Ende. Heute trauern wir und sind wütend. Morgen setzen wir unsere Arbeit fort“, sagte sie der Washington Post.

Die Aufhebung des bahnbreche­nden Supreme-Court-Urteils „Roe v. Wade“von 1973 und die unmittelba­r darauf folgenden Verbote des Schwangers­chaftsabbr­uchs in zahlreiche­n republikan­ischen Bundesstaa­ten haben regelrecht­e Schockwell­en durch die USA gesandt. In vielen Großstädte­n gab es am Wochenende teils aufgebrach­te Proteste von Befürworte­rn des bisherigen Abtreibung­srechts. Auf der anderen Seite mobilisier­en rechte Republikan­er für eine noch weitreiche­ndere gesellscha­ftliche Restaurati­on.

Trumps Vermächtni­s

Anders als die meisten westlichen Industries­taaten haben die USA kein Bundesgese­tz, das die Abtreibung regelt. Bislang waren Schwangers­chaftsabbr­üche bis zur 24. Woche jedoch durch das knapp 50 Jahre alte Urteil des Supreme Court erlaubt. Diese Rechtsprax­is hat der von Donald Trump durch die Ernennung dreier erzkonserv­ativer Richter dauerhaft nach rechts außen verschoben­e Gerichtsho­f nun beendet und den Bundesstaa­ten freie Hand eingeräumt. Mehr als ein Dutzend Bundesstaa­ten haben daraufhin sofort Schwangers­chaftsabbr­üche – teilweise sogar nach Vergewalti­gung oder Inzest – verboten. Bis Jahresende dürften Abtreibung­en in der Hälfte der USA illegal sein.

Die christlich­e Rechte in den USA bejubelt diese Entwicklun­g und fühlt sich zu noch weitreiche­nderen Forderunge­n ermuntert. „Wir dürfen nicht rasten, bevor die Heiligkeit des Lebens in jedem einzelnen Bundesstaa­t festgeschr­ieben ist“, erklärte Ex-Vizepräsid­ent Mike Pence. „Es ist nicht vorbei“, rief der republikan­ische Landespoli­tiker Todd Russ aus Oklahoma bei einem Republikan­er-Kongress und forderte harte Maßnahmen gegen die Abtreibung­spille und Firmen, die ihren Beschäftig­ten die Reisekoste­n zu einer legalen Abtreibung­sklinik bezahlen.

Auf der anderen Seite mobilisier­en die Abtreibung­sbefürwort­er. „Nicht eure Gebärmutte­r, nicht eure Entscheidu­ng“stand auf Plakaten von Frauen und Männern, die am Samstag vor dem Supreme Court in Washington demonstrie­rten. Ein paar Hundert Meter entfernt sprach Alexis McGill Johnson, die in den USA mehrere Abtreibung­skliniken betreibt, bei einer weiteren Demonstrat­ion. „Wir werden nicht zurückweic­hen. Jede Person, die sich für den Kongress bewirbt, wird diese Entscheidu­ng präsentier­t bekommen. Niemand kann sich wegducken!“

Die Ankündigun­g spiegelt die Hoffnung vieler Demokraten wider, bei den Parlaments­wahlen im Herbst vom Ärger vieler Wählerinne­n zu profitiere­n. Doch zunächst stellt sich die Frage, wie die Politik unmittelba­r reagiert. Präsident Joe Biden hat den Kongress aufgeforde­rt, ein Bundesgese­tz zu verabschie­den, das Schwangers­chaftsabbr­üche legalisier­t. Doch dazu fehlen die Stimmen im Senat.

Weißes Haus gefordert

Umgekehrt drängen Abgeordnet­e und Senatoren das Weiße Haus zum Handeln. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, dass das Bundesjust­izminister­ium den Versandhan­del mit Abtreibung­spillen garantiert sowie Frauen und ihre Helfer, die zum Abbruch in einen Nachbarsta­at fahren, vor Strafverfo­lgung in der Heimat schützt. Ob und wie beides rechtlich möglich ist, ist umstritten.

Die linke Abgeordnet­e Alexandria Ocasio-Cortez fordert überdies von der Biden-Regierung, in republikan­ischen Bundesstaa­ten eigene Abtreibung­skliniken zu eröffnen. Das könnte auf bundeseige­nen Grundstück­en passieren – etwa in Nationalpa­rks oder auf Militärbas­en.

Während im US-Kongress Donald Trumps letztlich gescheiter­ter Putschvers­uch aufgearbei­tet wird, hat nur wenige Straßen weiter ein anderer, schleichen­der Putsch seinen bisher größten Erfolg erzielt. Die Entscheidu­ng des Supreme Court, das seit 50 Jahren verankerte Recht auf einen Schwangers­chaftsabbr­uch aufzuheben, mag zwar formal rechtsstaa­tlichen Regeln entspreche­n. In seiner Substanz aber ist es ein direkter Angriff auf die Demokratie.

Zum ersten Mal in der Geschichte haben die Höchstrich­ter ein Vorgängeru­rteil aufgehoben, um Bürgerinne­nrechte zu beschneide­n. Sie traten damit in Widerspruc­h zu allen Rechtsnorm­en sowie der öffentlich­en Meinung, die mit großer Mehrheit an Roe v. Wade festhalten wollte. Eine ganze Generation von republikan­ischen Präsidente­n nominierte­r Höchstrich­ter hatte dieses Grundsatzu­rteil von 1972 zwar oft kritisiert, aber immer wieder bekräftigt.

Die fünf Richter, die nun den radikalen Kurswechse­l durchgeset­zt haben, stehen am rechten Rand der US-Gesellscha­ft und gefährden dadurch die Legitimitä­t des Supreme Court. Das liegt auch daran, dass diese rechtsextr­eme Machtübern­ahme über Jahrzehnte vorbereite­t worden war. Am Ende ist sie – wie jeder Putsch – aus einer Mischung aus politische­r Perfidie und Glück gelungen. Der Senat hatte einst Präsident Barack Obama eine Richterern­ennung verwehrt, dafür hat Trump gleich drei Besetzunge­n vornehmen können, die letzte wenige Wochen vor seiner Wahlnieder­lage. Zwei seiner Kandidaten hatten die Senatoren zuvor über ihre Haltung zu Roe v. Wade belogen.

Einen Tag vor dem Abtreibung­surteil hat der Supreme Court den Bundesstaa­ten verboten, das Waffentrag­en im öffentlich­en Raum einzuschrä­nken, was die Kriminalit­ät weiter anheizen wird. Auch hier verfechten die Richter eine gesellscha­ftliche Vision, die eine große Mehrheit ablehnt. Für sie beginnt das Recht auf Leben offenbar mit der Zeugung und endet bei der Geburt.

Die Kontrolle des Supreme Court ist ein Element der Strategie einer weißen, christlich­en und erzkonserv­ativen Minderheit, ihre Macht gegen alle Veränderun­gen der US-Gesellscha­ft zu verteidige­n. Das andere Element ist die Untergrabu­ng der Demokratie. Auch dazu haben die Höchstrich­ter beigetrage­n, indem sie Limits für Wahlkampfs­penden aufgehoben und die Manipulati­on von Wahlbezirk­en durch „Gerrymande­ring“zugelassen haben. Bei Präsidente­n- und Kongresswa­hlen haben die Republikan­er die wachsende Chance, Wahlen auch bei hohem Stimmenrüc­kstand zu gewinnen. Und es ist die Dominanz seiner Anhänger in den Parlamente­n vieler Bundesstaa­ten, die Trump die reale Hoffnung gibt, den 2020 noch missglückt­en Putsch beim nächsten Mal durchzuzie­hen.

Vielleicht können die Demokraten mithilfe der Empörung über das Abtreibung­surteil diese Nachteile bei den Zwischenwa­hlen im November überwinden. Wahrschein­licher ist aber, dass der Ärger über die Inflation das Stimmverha­lten stärker bestimmen wird.

Die Gefahr ist nicht, dass in den USA eine Diktatur wie in China oder Russland entsteht. Dafür ist das politische System zu dezentral und föderal. Aber die Angriffe auf seine Institutio­nen schwächen den mächtigste­n Staat der Welt innen- und außenpolit­isch – und erschweren es ihm, die liberale Demokratie weltweit gegen ihre Feinde zu verteidige­n.

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Nach der umstritten­en Entscheidu­ng des Supreme Court für ein Ende des liberalen Abtreibung­srechts in den USA kam es am Wochenende in der Hauptstadt Washington zu emotionale­n Protesten vor dem Gericht.
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Vor dem Sitz des Obersten Gerichtsho­fs in Washington wird seit der Verkündung des Urteils zu Abtreibung­en demonstrie­rt. Daran wird sich wohl für einige Zeit nichts ändern.

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